Zehn Milliarden (German Edition)
die einfach stupid in die heiße Lampe fliegen müssen.« Wieder legte er eine Kunstpause ein, was kräftig an Nicks Nerven zerrte. »Unser Kortex besteht zwar aus Arealen, denen man eindeutig bestimmte Funktionen wie tasten, sehen, riechen oder eben Muskelbewegungen zuordnen kann, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Das Gehirn der Wirbeltiere enthält auch Gebiete, die nicht eindeutig einer Funktion zuzuordnen sind, und zwar umso mehr, je höher das Tier entwickelt ist. Bei uns Menschen sind diese assoziativen Areale sehr stark ausgebildet. Da unterscheiden wir uns interessanterweise sehr stark von den Affen.«
»Endlich ein eindeutiges Kriterium«, entfuhr es Nick.
»So ist es«, bestätigte Vic ernsthaft. »Genetisch und auch sonst unterscheiden wir uns nämlich kaum.«
»Diese assoziativen Areale - wie relevant sind sie für unsere Prothesensteuerung?«, wollte Julie ungeduldig wissen.
»Diese Bereiche sorgen dafür, dass der Input durch äußere Reize nicht fix stets nach dem gleichen Muster verarbeitet, sondern über viele Zwischenstationen hinweg verändert und angepasst wird. Die Reaktionen fallen daher unterschiedlich aus. Ich weiß nicht, wie entscheidend diese Erkenntnis für euch ist, aber ich denke, wir müssen das genau analysieren.« Nick warf Julie einen zufriedenen Blick zu und lächelte.
»Deine berüchtigte Intuition.«
»Der Fluch des weisen Mannes«, grinste Vic und strich sich einmal mehr über den Bart. Vics Idee erwies sich als derart fruchtbar, dass sie bis in den späten Nachmittag hinein im Haus, in der Bibliothek und am Bildschirm arbeiteten, ohne auch nur einmal eine Pause einzulegen, oder gar ans Essen zu denken. Keiner der drei hörte das Klopfen an der Tür zum Computerraum.
»Wenn ichs nicht besser wüsste, würde ich sagen, ihr bereitet euch auf eine Prüfung vor«, spottete Brooke, die unbemerkt eingetreten war. »Leute, hier auf Moorea ist es eine Sünde, solange im Haus zu arbeiten, wisst ihr das nicht?« Als erwachten sie widerwillig aus einem faszinierenden Traum, benötigten sie einige Sekunden, bis sie sich entspannten und ihrer Gastgeberin zuwandten. Julie schaute auf die Uhr und erschrak.
»Du meine Güte, schon so spät?« Verwirrt blickte sie ihre ehemalige Kollegin an. »Ich müsste längst Hunger haben.« Brooke lachte.
»Wenn du noch fit bist, kannst du mich begleiten. Ich kenne jemanden, der immer Hunger hat.« Julie entschied, dass sie für heute genug gearbeitet hatten und ließ sich widerstandslos von Brooke entführen. Eine gute Gelegenheit für die Männer, das wichtige Thema Emily in Ruhe zu besprechen, schätzte sie. Brooke betrat einen Geräteschuppen am Ufer, bei dem ein Schlauchboot mit großem Außenbordmotor vertäut war. Nach kurzer Zeit kam sie mit zwei blauen Taucheranzügen wieder heraus.
»Dieser hier sollte passen. Du tauchst doch noch?«
»Ja - klar«, stammelte Julie überrascht. Sie hatte es zwar zwei oder drei Jahre lang nicht mehr getan, aber einen Tauchgang in diesen Gewässern wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Brooke beschleunigte kräftig, als sie die Uferzone verlassen hatten, sodass das flache Boot hart auf dem Wasser aufschlug und ihnen die Gischt ins Gesicht peitschte. Ein paar Minuten später befanden sie sich außerhalb der Bucht in der Lagune, und sie drosselte den Motor. Sie ließ das Boot eine Weile treiben, bis sie über einem Riff anhielt, das sich wie eine in seltsam falschen Farben leuchtende Blumenwiese fünf oder sechs Meter unter ihnen ausbreitete. Sie nahm einen kleinen Beutel aus einer Art Kühlbox und sagte:
»Das ist mein privates Gärtchen. Hier dürfen die Bewohner gefüttert werden. Sonst erlauben wir das nirgends in dieser Gegend. Unsere Forschung an den Korallenriffen und der übrigen Meeresfauna soll schließlich nicht durch menschliche Aktivitäten verfälscht werden.« Bevor Julie eine Frage stellen konnte, setzte sie die Maske auf, nahm das Mundstück zwischen die Zähne und glitt rücklings ins warme Wasser. Kopfschüttelnd folgte ihr Julie. Kaum unter Wasser, umfing sie die beinahe vollkommene Stille wie ein Schock. Nur das Blubbern der austretenden Atemluft und das leise Zischen des Druckventils waren zu hören. Sie hatte dieses befreiende Gefühl des lautlosen, schwerelosen Gleitens schon fast vergessen und ließ sich reglos auf den Grund der Lagune sinken. Die Clownfische mit ihren abgeklärten gelben Gesichtern, die schlanken, nervösen Grundeln und ein kopfgroßer
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