Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
zwischen 60 und 100 Haare«, gab Mertel trotzig zurück, obwohl ihn Tannenbergs Einwurf merklich verunsichert hatte.
»Unter Umständen gibt es eine ganz andere Erklärung dafür«, versetzte Eva. »Nehmen wir einmal an, der Täter hat die Haare absichtlich so deponiert, dass die Kriminaltechnik sie garantiert finden wird. Vielleicht will er uns ja unbedingt diesen entscheidenden Hinweis geben, um den Reiz seines Katz-und-Maus-Spiels zu erhöhen. Im Sinne von: Ätsch – auch wenn ihr meine DNA habt, könnt ihr mich nicht kriegen.«
»Glaubst du wirklich, dass dieser Typ so hoch pokert?«, fragte Tannenberg.
»Warum denn nicht, Wolf. Serientäter neigen zu solchen irrationalen Verhaltensweisen. Denk nur mal an das, was ich vorhin als Paradoxon des perfekten Verbrechens bezeichnet habe«, erwiderte die Kriminalpsychologin: »Der Täter will anonym bleiben und perfekte Verbrechen begehen, aber gleichzeitig sucht er die Öffentlichkeit, die ihn dafür bewundern soll. Auch wir, seine Häscher, sollen offenkundig wissen, wer der geniale Täter ist, der uns an der Nase herumführt.«
Wieder war es ganz einfach: John nahm den alten Mann ins Visier, atmete ruhig aus und drückte ab. Das Töten von Menschen fiel ihm nicht schwer.
Es war Routine, denn Töten war sein Beruf.
Er blieb noch zwei, drei Minuten in seinem Versteck sitzen, dann baute er die Waffe auseinander. In vollen Zügen genoss er dieses unglaublich intensive Gefühl von Stärke und Macht. Es hatte sich bisher jedes Mal eingestellt, kurz nachdem er getötet hatte. Er war geradezu süchtig nach diesem Rauschzustand. Neben solch einem Euphorieschub machte sich große Erleichterung in ihm breit, denn mit dem fünften Mordanschlag hatte er den ersten Teil seines Plans erfüllt.
Ich bin unsichtbar, genial, unantastbar, prahlte er in Gedanken. Ich habe allen bewiesen, dass mir nichts passieren kann. Immer und überall kann ich zuschlagen und anschließend unerkannt verschwinden. Auch wenn mich jemand sehen sollte, spielt das keine Rolle. Wie soll man mich denn schon beschreiben: mittelgroße, kräftige Gestalt, grüne Klamotten und Gesichtsmaske – das war’s! Und mein Auto: Eine Allerweltskarre mit falschen Nummernschildern!
Schon bald werden sie im Radio und Fernsehen darüber berichten und morgen früh werden alle Zeitungen voll damit sein. Jeder wird davon erfahren – jeder! Und jeder wird sich fragen, welch ein Teufelskerl wohl dahinterstecken mag.
Als er in den frühen Abendstunden schweißgebadet und zitternd in seiner Wohnung in Mannheim erwachte, wurde er von hämmernden Kopfschmerzen gemartert. Er schleppte sich ins Bad und warf mehrere Pillen ein. Mit Hilfe der Medikamente hatte er die extremen Stimmungsschwankungen einigermaßen im Griff. Überall in seiner Wohnung lagen Schlafmittel, Antidepressiva, Schmerztabletten, Tranquilizer und Aufputschmittel herum – treue Wegbegleiter durch ein Leben, das seit Sommer letzten Jahres kein Leben mehr war.
Plötzlich verspürte er einen Bärenhunger. Er trottete in die Küche, öffnete eine Dose Bohneneintopf und erhitzte den Inhalt. Das ging schnell und es sättigte für längere Zeit. Während er die Nahrung wie ein ausgehungertes Raubtier in sich hinein schlang, wurde ihm bewusst, dass er heute noch überhaupt nichts in sein Tagebuch geschrieben hatte. Er stopfte sich noch einmal den Mund voll, dann notierte er die Tagesereignisse in chronologischer Reihenfolge.
Was für eine logistische Meisterleistung!, lobte er sich selbst. Welch ein begnadeter Schütze!
Mit stolzgeschwellter Brust schlenderte er in sein Arbeitszimmer und betrachtete zufrieden die Landkarte, die er an der Wand aufgezogen hatte. Darauf hatte er alle zehn Anschlagsorte mit gelben Kreuzen markiert und durch zwei dicke feuerrote Linien zu einem Fadenkreuz miteinander verbunden. Es sah aus, als ob jemand die Pfalz mit einem Zielfernrohr ins Visier genommen hätte. Die Koordinaten trafen exakt dort aufeinander, wo sich das geografische Zentrum der Pfalz befand – und wo gestern Abend eine ehemalige Pumpstation den Flammen zum Opfer gefallen war.
Schmunzelnd ging er ans Fenster und öffnete es sperrangelweit.
Er nahm einen tiefen Atemzug.
Auf dem Balkon direkt unter seiner Wohnung wurde gegrillt.
Der Geruch von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase.
Er roch sein eigenes, verbranntes Fleisch.
In Panik schlug er das Fenster zu und verriegelte es mit letzter Kraft.
10
»Deine Psychologin hat ja ganz schön viel Holz vor
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