Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
sollten wir unseren Ermittlungsfokus noch auf einige andere Fragen richten: Warum begeht unser Serienkiller diese Taten ausgerechnet jetzt und nicht erst in einem halben Jahr oder in zwei Jahren? Warum ausgerechnet jetzt? Dafür muss es doch einen triftigen Grund geben. Und weiter: Welche Ursachen könnten als Auslöser für seinen Amoklauf in Betracht kommen?«
»Serientäter funktionieren über viele Jahre hinweg in ihrem Beruf und privaten Umfeld perfekt wie ein Uhrwerk«, dozierte die Kriminalpsychologin. »Oft sogar zu perfekt, im Sinne von Überangepasstheit, Unterwürfigkeit. Sie leben völlig unauffällig unter uns, als netter Nachbar, guter Freund, liebenswerter Kollege. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen: Diese Menschen sind Wölfe im Schafspelz, denn urplötzlich verwandeln sich diese freundlichen, herzensguten Mitbürger zu gemeingefährlichen Bestien und tickenden Zeitbomben.«
»Aber aus welchem Grund geschieht denn diese plötzliche Wesensveränderung?«, wollte Sabrina wissen.
»Es handelt sich dabei nicht um eine Wesensveränderung, im Sinne einer Umprogrammierung, sondern um den Ausbruch einer bislang nur latent vorhandenen Persönlichkeitsdisposition. Irgendein Anlass wirkt als auslösender Impuls. Dadurch wird die heile Welt des Täters zerstört und er wird aus der Bahn geworfen.«
»Wodurch wird so etwas ausgelöst?«, ließ die junge Kommissarin nicht locker.
»Das kann alles Mögliche sein. Wir unterscheiden exogene und endogene Faktoren. Zur ersten Kategorie gehören Ereignisse außerhalb der Persönlichkeit des Täters, also zum Beispiel die Trennungsabsicht der Lebenspartnerin. Da sind schon die friedlichsten und völlig unauffälligen Familienväter zu Berserkern geworden. Oder Schüler, die wegen eines Schulverweises oder wegen schlechter Noten Amok gelaufen sind. Zu den endogenen Faktoren, die als Auslöser für solche Taten gemeinhin gelten, zählen Drogen – und natürlich auch Dopingmittel. Diesbezüglich gibt es ja zumindest bei dem ersten Toten gewisse Anhaltspunkte.«
Tannenberg, der sich von derartigen Spekulationen schon längst verabschiedet hatte, wischte die Bemerkung mit einer Geste beiseite. »Quatsch, dafür existieren inzwischen keinerlei Anhaltspunkte mehr.«
»Wieso?«, fragte Michael Schauß. »Die gerichtsmedizinischen Befunde liegen doch noch gar nicht vor.«
»Trotzdem ist da nichts dran«, beharrte sein Chef auf seiner Meinung. »Oder glaubst du etwa, dass Rentner, die Freizeitsport betreiben, sich dopen?«
»Eva, etwas verstehe ich einfach nicht«, hakte Sabrina mit gekrauster Stirn nach. »Einerseits tötet der Sniper seine Opfer aus beträchtlicher Entfernung. Die Vorteile dieser Strategie liegen ja auf der Hand: Die große Distanz gewährleistet Schutz vor Entdeckung und bietet gleichzeitig sehr gute Fluchtmöglichkeiten.« Sie streckte den Rücken durch.
»Aber andererseits verlässt er diese relativ sichere Deckung und begibt sich zu seinen Opfern, bringt Kabelbinder an, vergräbt eines im Sand, platziert einem anderen eine Kugel auf dem Bauch und legt wieder ein anderes mühevoll mit dem Rücken auf eine Schranke – nur damit es so aussieht, als ob der arme Mann einen Fosbury-Flop gesprungen sei.«
»Genau das ist der springende Punkt, meine Liebe: Wenn man dieses Verhalten vor dem Hintergrund des Zehnkampfs, dem Zentralbestandteil seiner Inszenierung, sieht, ergibt es durchaus einen Sinn: Denn nur auf diese Art und Weise kann der Täter sicherstellen, dass seine Message auch bei uns ankommt.«
»Und wie soll die deiner Meinung nach lauten?«, fragte Tannenberg, der immer noch nicht überzeugt schien.
»Der Täter will uns Folgendes mitteilen«, entgegnete Eva: »Leute, alle mal aufgepasst: Hier ist ein genialer Verbrecher am Werk. Ich spiele ein fieses, dreistes Spielchen mit euch, tanze euch auf der Nase herum. Und ihr könnt mich nicht packen, weil ihr immer zu spät kommt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, weshalb er diese Morde in diesen relativ kurzen Zeitabständen begeht.«
»Damit will er uns nicht zur Ruhe kommen lassen, uns permanent unter Druck setzen, indem er uns von einem Tatort zum anderen hetzt.«
»Nicht nur das, Wolf«, bestätigte die Profilerin. Sie nahm einen Bleistift und ließ ihn über die Fingerkuppen rollen. »Dieser Täter agiert in einer Art Rauschzustand, der mit Allmachtfantasien, Größenwahn und dem Mythos der Unverwundbarkeit einhergeht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er die letzten
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