Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
Hilfe von Scharfschützen, die zu nichts anderem als zum Töten ausgebildet wurden.«
Einige Sekunden lang wanderte das Schweigen zwischen den beiden Männern hin und her.
»Aber was spielt sich im Kopf eines solchen Elitesoldaten ab, der aus einem Hinterhalt heraus andere Menschen tötet?«, wollte Tannenberg mit belegter Stimme wissen. »Was geht in einem Heckenschützen vor, wenn er auf der Lauer liegt, um aus sicherer Entfernung einen Menschen zu liquidieren? Wie kann er damit nur weiterleben?«
»Die Empfindungen in diesen Extremsituationen und deren Auswirkungen auf die Psyche des jeweiligen Kämpfers sind sicherlich von Person zu Person verschieden. Aber sie lassen sich mit den Symptomen, die ich Ihnen eben geschildert habe, einigermaßen umreißen. Wobei ich das Gefühl hatte, dass John stärker als andere darunter gelitten hat, dass man ihn wie eine heiße Kartoffel hat fallen lassen. Vielleicht will er mit diesem Amoklauf allen beweisen, dass er der beste Scharfschütze weit und breit ist und man ihn völlig zu Unrecht ausgemustert hat.«
»Nun mal langsam und der Reihe nach. Was wissen Sie Konkretes über diesen Mann? Wo wohnt er, hat er Familie, wie sieht er aus?« Tannenberg schürzte die Lippen. »Wieso kennen Sie eigentlich seinen Namen nicht, wenn er doch ihr Patient war?«
»Ich kann alle diese Fragen zusammenfassend beantworten: Ich weiß deshalb weder den richtigen Namen noch andere personenbezogene Dinge von John, weil diese Person, die ich zu therapieren versucht habe, offiziell überhaupt nicht existiert.«
Tannenberg bemerkte erst jetzt, dass er immer noch angegurtet war. Er befreite sich von seinem Sicherheitsgurt und lehnte sich mit dem Rücken an die Beifahrertür. So konnte er den Psychologen besser ins Visier nehmen, ohne andauernd den Kopf bis zum Anschlag zu ihm hindrehen zu müssen, was ihm bereits Genickschmerzen verursachte.
»Sie erwarten jetzt nicht von mir, dass ich Ihnen gedanklich folgen kann«, sagte er.
Ein kurzes Schmunzeln huschte über Kronenbergers Gesicht, doch gleich darauf verfinsterte sich seine Miene wieder. »Genau darin besteht ja mein Problem. Bei John handelt es sich eben nicht um einen gewöhnlichen Soldaten. Wenn er dies wäre, hätte ich selbstverständlich seine persönlichen Daten in meiner Akte stehen.«
Der Bundeswehr-Psychologe presste so fest die Zahnreihen aufeinander, dass seine Zähne knirschten als kleine Erhebungen unter der Wangenhaut abzeichneten. »Aber von John habe ich nichts, rein gar nichts. Was sehr dafür spricht, dass er in strenggeheimer Mission agiert hat.« Er warf die Stirn in Falten und korrigierte sich: »Obwohl, etwas weiß ich doch von ihm. Er hat eine auffällige Tätowierung am Bein: zwei bunte Skorpione. Die hab ich einmal kurz gesehen. Aber sonst nichts. Ja, ich weiß noch nicht einmal, wie er aussieht.«
»Was? Wieso denn das? Ich dachte, Sie …«
»Er trug stets eine Gesichtsmaske«, schnitt ihm der Oberstabsarzt das Wort ab. »Außerdem wurde er bei jeder Sitzung von einem Mann begleitet, der streng darauf geachtet hat, dass er sie nicht abnahm.«
»Von wem wurde er begleitet?«
Ein bitteres Lachen erklang. »Keine Ahnung. Der andere war ebenfalls maskiert.« Kronenberger blickte sich ängstlich nach allen Seiten um, doch im Wald und auf dem Forstweg war es nach wie vor ruhig und friedlich. »Vielleicht einer vom MAD, vom BND oder von sonst wem«, schob er nach.
»Ist so etwas beim Militär üblich?«
Dr. Kronenberger kicherte. »Gott behüte, nein. Wo kämen wir denn da hin. Wie im Zivilbereich ist die Klienten/Therapeuten-Beziehung auch bei uns eine duale und unterliegt dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit.«
»Aber in Ihrem Fall war ein anderer mit dabei.«
»Ja, und der ist sofort eingeschritten, wenn John dazu ansetzte, etwas zu sagen, was er offensichtlich nicht sagen sollte.«
»Das glaube ich alles einfach nicht«, versetzte Tannenberg. »Warum haben Sie dieses Kasperletheater denn überhaupt mitgemacht?«
»Weil es einen entsprechenden Befehl dazu gab. – Und weil ich ein Experte für solche schwierigen Fälle bin«, ergänzte er nach einer kleinen Pause. »Stark traumatisierte Patienten wie John benötigen dringend professionelle Hilfe. Menschen wie er sind die bemitleidenswertesten Geschöpfe, die ich kenne.«
»Also, wenn dieser John wirklich der gesuchte Serienkiller wäre, würde sich mein Mitleid wohl eher auf seine unschuldigen Opfer richten«, wandte Tannenberg
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