Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
von dieser Geschichte Kenntnis besaß, überlegte er. Vielleicht gehörte er zum Kreis der Eingeweihten. Ja, vielleicht war er sogar selbst dieser unbekannte Begleiter. Vielleicht hat er das Folterschicksal dieses John als Hintergrundfolie für seine eigene Mordserie benutzt. Aber weshalb? Welches Motiv könnte ihn angetrieben haben?
»Kennen Sie einen gewissen Thomas Rettler?«, fragte er den Offizier.
»Nein. Wer soll das sein?«
»Haben Sie diesen Namen wirklich noch nie zuvor gehört?«
Wortlos schüttelte Kronenberger den Kopf.
Blödhammel, beschimpfte sich Tannenberg in Gedanken. Woher sollte er denn diesen Namen kennen? Wenn Rettler wirklich zu dieser Eliteeinheit gehörte, wird er wohl ebenfalls auf strikte Anonymität geachtet haben. »Rettler ist der dringend Tatverdächtige, der heute Morgen Suizid begangen hat.«
»In den Nachrichten haben sie den Namen nicht genannt, sondern nur von einem ehemaligen Söldner gesprochen.«
»Das stimmt. Ich kann guten Gewissens behaupten, dass die Indizienlage gegen ihn mehr als erdrückend ist.«
Dr. Kronenberger strich nachdenklich über seinen buschigen Schnurrbart. »Das würde ja heißen, dass John gar nicht der Täter sein kann.« Er rieb sich so fest über die Stirn, als wolle er diese Erkenntnis gewaltsam in seinen Kopf hineindrücken. »Aber das wäre doch der totale Zufall. Und an Zufälle glaube ich nicht. Die Folterungen in einem Sportstadion …«
Das Gesicht des Psychologen verzog sich zu einer furchterregenden Grimasse. Beschwörend riss er die Hände empor und fuchtelte mit ihnen vor dem Kopf herum. Dann sprach er weiter: »Die von Zehnkämpfern durchgeführt wurden. Dann diese Zitate. Und zwar nicht irgendwelche aus diesen beiden Büchern, sondern genau diejenigen, die John bei unseren Sitzungen wiederholt zitiert hat. Das kann doch alles kein Zufall sein.«
»Muss es ja auch nicht«, entgegnete Tannenberg lächelnd. Großzügigerweise räumte er Kronenberger ein paar Sekunden für eine Nachfrage ein. Doch der ließ die Zeit ungenutzt verstreichen. »Es gibt eine ganz einfache Erklärung, mit der sich die scheinbaren Gegensätze miteinander verbinden lassen.«
»Und welche?«, reagierte Kronenberger nun endlich.
»Wenn unser Täter detaillierte Kenntnis vom Inhalt der therapeutischen Sitzungen mit Ihrem John hatte, kann er dieses Insiderwissen als Background für sein perverses Tontaubenschießen verwendet haben. Aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht war er sogar sein Begleiter.«
Dr. Kronenberger ging ein Licht auf. Sein Kopf zuckte fast unmerklich zurück und er erwachte aus düsterer Stimmung. »Sicher, das klingt durchaus plausibel. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Sein Gesicht leuchtete auf. »Ich war wohl aus Angst völlig blockiert. Dann wären alle meine Sorgen ja auf einmal wie weggeblasen.«
»So ist es. Und ich werde selbstverständlich niemandem etwas von unserem nächtlichen Treffen erzählen. Da können Sie ganz unbesorgt sein.«
»Wunderbar.« Zutiefst erleichtert schnaufte der Oberstabsarzt ein paar Mal kräftig durch. »Damit fällt mir wirklich ein großer Stein vom Herzen.«
»Ja, mein lieber Herr Dr. Kronenberger, manchmal verrennt man sich ganz gewaltig in eine Sackgasse.« Schmunzelnd fügte Tannenberg an: »Passiert mir auch manchmal. Aber bitte nicht weitersagen.«
»Nein, nein, darauf können Sie sich verlassen«, gab der Oberstabsarzt schmunzelnd zurück. Er schaltete die Innenraumbeleuchtung ein. »Wenn ich mir’s recht überlege, existiert sogar noch eine weitere Möglichkeit: John und dieser Rettler könnten auch ein und dieselbe Person sein.«
Nun reagierte Tannenberg seinerseits verdutzt. »Darüber muss ich mal in aller Ruhe während der Heimfahrt nachdenken.« Er gähnte, rieb sich die Augen und warf anschließend einen Blick auf die fahl beleuchtete Uhr im Armaturenbrett. »Es ist ja auch ganz schön spät geworden. – Aber wissen Sie was, eigentlich spielt das alles zurzeit keine große Rolle. Die Hauptsache ist, der Täter ist nicht mehr in der Lage, seine Mordserie fortzusetzen.«
»Ja, das ist das Wichtigste«, stimmte der Oberstabsarzt zu, startete den Motor und legte den ersten Gang ein.
Ein peitschenartiger Knall zerschnitt die friedliche Stille. Die Frontscheibe splitterte. Das Projektil traf Kronenberger direkt über der Nasenwurzel in die Stirn. Der Kopf wurde durch die enorme Wucht des Projektileinschlags nach hinten gerissen, doch gleich darauf schleuderte er wieder nach
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