Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
wertlos zu sein, treibt nicht wenige von ihnen in den Selbstmord. Urplötzlich stehen sie vor den Trümmern ihres Lebens, sind beziehungsunfähig, unglücklich, fühlen sich innerlich bedroht. Und irgendwann schlägt diese Unsicherheit, diese Angst und dieses ständige Gefühl der Bedrohung in Aggression und Gewalt um – gegen sich selbst oder gegen andere.«
»Dann wurde dieser John wohl auch ausgemustert.«
»So ist es. Und ich kann Ihnen versichern, dass er darunter gelitten hat wie ein Hund. Deswegen war die Therapie ja auch so eminent wichtig für ihn. Wir waren auf einem richtig guten, Erfolg versprechenden Weg. Und dann bricht er die Therapie einfach ab, von dem einen auf den anderen Tag. Ich habe seine Entscheidung sehr bedauert, denn Patienten mit solchen fürchterlichen Schicksalsschlägen wachsen einem richtig ans Herz. John ist im Grunde seines Herzens nämlich ein sensibler, gutmütiger Mensch.«
»Mir kommen vor Mitgefühl wirklich gleich die Tränen«, höhnte der Kriminalbeamte. »Wenn Sie mit Ihrer Behauptung recht haben sollten, was ich ehrlich gesagt immer noch bezweifle, wäre dieser Typ ein skrupelloser Serienkiller. Sie reden ja gerade so, als ob es sich bei solch einem Verbrecher um ein missbrauchtes Kind handeln würde. Und dann bringen Sie auch noch großes Verständnis für ihn auf – das geht mir eindeutig zu weit, kann ich da nur sagen!«, ließ Tannenberg seiner Empörung freien Lauf.
Kronenberger schwieg.
»Also, Sie sind mir vielleicht ein komischer Kauz«, setzte Tannenberg noch eins drauf. Sein lang gezogenes Grunzen hätte jedem Wildschwein zur Ehre gereicht. »Sich selbst therapieren? Was soll das überhaupt heißen?«
Der Psychologe schaute seinen Beifahrer verwundert an. »Aber das liegt doch auf der Hand. Er will sich durch diese Mordserie von seinem Trauma befreien.«
Tannenbergs Kinnlade fiel herab. Mit offenem Mund stierte er den Oberstabsarzt an. »Serienmord als Therapie?«
»Ja, so verrückt es für einen Laien auch klingen mag, aber aus psychologischer Sicht besteht durchaus die Möglichkeit, dass er damit Erfolg haben könnte.«
»Das glaube ich nicht.«
Nickend stieß Dr. Kronenberger einen Schwall Luft durch die Nase. »Es ist aber so, ob es uns nun passt oder nicht.« Mit den Fingern der linken Hand durchfurchte er seine Naturlocken.
»Aber das ist doch nicht normal.«
»Diese Elitesoldaten sind auch nicht normal, jedenfalls nicht nach bürgerlichen Maßstäben. Diese jungen Männer werden aus Abenteuerlust zur Bundeswehr oder zur Fremdenlegion getrieben. Dort absolvieren sie eine knallharte Spezialausbildung, die sie zu Kampfmaschinen umfunktioniert. Nur die besten, tapfersten und zähesten werden für die Eliteeinheiten ausgewählt.« Der Psychologe zupfte seufzend an seinem Ohrläppchen.
»In ihren späteren, meist streng geheimen Einsätzen, sogenannten ›High-Risk-Operations‹, blicken sie tagtäglich dem Tod ins Auge. Diese Jungs sind Adrenalin-Junkies, gierig nach Extremsituationen. Dabei spielt Macht und deren Ausübung eine zentrale Rolle. Sie besitzen die Macht, Menschen zu töten, und das verschafft ihnen triumphale Rauschzustände, die sie so oft wie möglich wiederholen wollen. Sie sind Drogensüchtige, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick.«
»Verstehe ich das richtig: Bei diesen Typen ist es üblich, dass ein Mord emotionale Hochstimmung in ihnen auslöst?«
»Ja, so ist es. Dieses Gefühl haben sie mir gegenüber schon oft geäußert. Durch ihre – wie sie selbst meinen – kühnen, mutigen, genialen Taten treten sie aus der Masse hervor und können endlich beweisen, was in ihnen steckt. Dabei sind gerade die Heckenschützen, zu denen auch John gehörte, eigentlich ausgesprochen feige, heimtückische Mörder. Denn sie töten aus einer sicheren Deckung heraus und können meist vom Feind nicht gesehen oder erreicht werden.«
»Das ist ja wirklich starker Tobak, was Sie mir da gerade präsentieren.«
»Ich weiß, aber es ist leider die Realität.«
»Eine Realität, von der die breite Öffentlichkeit nichts weiß.«
»Nichts wissen will, würde ich behaupten. Man möchte zwar vor dem internationalen Terrorismus wirkungsvoll geschützt werden, aber bitte mit Friedenstäubchen und Blumensträußen in den Gewehrläufen. Nicht mit illegalen Kampfeinsätzen, die in der Praxis ja nichts anderes sind als Vernichtungseinsätze zur Eliminierung von Feinden, die unsere Freiheit, unsere Kultur und unseren Wohlstand bedrohen. Auch mit
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