Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
verbundenen Augen zusammenfügen – und zwar in Rekordzeit.
Während er sich auf seine Atemzüge konzentrierte, streichelte er sanft über die Tätowierung an seinem linken Bein. Zuerst kreisend über beide Skorpione hinweg, dann fuhr er mit seinen Fingerkuppen die beiden Buchstaben nach. Er hatte sich dieses Ritual irgendwann einmal angewöhnt und übte es seitdem genauso leidenschaftlich aus wie ein Fußballprofi, der immer zuerst den rechten Schienbeinschützer anzog oder irgendwelche anderen Marotten pflegte.
Denn auch er war ein Profi, einer, der seine Kunst perfekt beherrschte: ars necandi – die Kunst des Tötens.
Während er seine Waffe streichelte, spürte er den kalten, todbringenden Stahl unter seinen Fingerkuppen.
Du behandelst deine Waffe so, als ob sie dein wichtigstes persönliches Gut sei. Und du lässt deine Waffe niemals zurück, hämmerten die einprogrammierten Gebote unter seinem kahlrasierten Schädel. Du achtest stets auf ein einwandfreies, gepflegtes Äußeres und dein Benehmen ist würdevoll und zurückhaltend.
Er rückte seine Jacke zurecht und richtete den Hemdkragen aus.
Trotz der gleichen Medikamentendosis war er diesmal etwas unruhiger als beim ersten Teil seines Scharfschützen-Zehnkampfs. Kein Wunder, schließlich hatte er sich für den zweiten Durchgang erschwerte Wettkampfbedingungen auferlegt.
Für die Ouvertüre des ersten Wettkampfabschnittes waren keine besonderen Vorarbeiten nötig, da sich ihm die jungen Sportler auf der 100-Meter-Laufbahn quasi auf dem silbernen Tablett präsentierten. Er hatte die freie Auswahl und diese auch genutzt. Dagegen musste er die Gewohnheiten der nächsten vier Opfer über Monate hinweg ausspähen, entsprechend der jeweiligen Anschlagsorte, die er für die Dramaturgie seines Rachefeldzuges vorab festgelegt hatte.
Und nun, vor dem zweiten Teil seines Zehnkampf-Wettbewerbs, sah er sich mit etwas Neuem konfrontiert: Aufgrund des Plans kannte er zwar seine nächsten Einsatzorte, die Zielpersonen hingegen waren ihm unbekannt. Zudem wusste er nicht, zu welchem Zeitpunkt die potenziellen Opfer dort auftauchen würden. Aber auch das stellte ihn nicht vor größere Probleme. Sein Job brachte es mit sich, dass er manchmal sogar tagelang irgendwo auf der Lauer liegen und auf einen günstigen Zeitpunkt warten musste.
Besser länger warten und den Auftrag optimal erfüllen, als hektisch an die Sache herangehen, hatten ihm seine Ausbilder ins Gebetbuch geschrieben. Und John hatte sich an diese Order immer gehalten, hatte stets perfekt funktioniert. Auch bei seinem letzten Einsatz. Es war nicht seine Schuld, dass die Spezialeinheit beim Rückzug in einen Hinterhalt geriet und er gefangen genommen wurde. Kameraden, die ihm mehr bedeuteten als leibliche Brüder, starben bei diesem Gefecht – Kameraden, für die er alles geopfert hätte, auch sein Leben.
›Einer für alle, alle für einen‹, war einer ihrer Grundsätze.
›Disziplin und Kameradschaft sind deine Stärken, Mut und Treue deine Tugenden‹, lautete ein anderer.
›Deinem Vorgesetzten bist du treu ergeben, denn der erteilte Befehl ist heilig‹, hieß ein weiterer. Auch wenn er noch so falsch ist, schimpfte er in Gedanken.
Und dieser Befehl war falsch! Wir hätten den anderen Weg nehmen müssen. Aber du Scheißkerl wolltest ja nicht auf uns hören. Du hast meine Brüder auf dem Gewissen – und mich! Und dann besitzt du auch noch die Dreistigkeit, mich vom Dienst zu suspendieren, weil ich angeblich nicht mehr einsatztauglich bin. Dabei hast du versagt – nicht ich!
Er musste an diesem wolkenlosen Septembermorgen nicht mehr lange auf sein nächstes Opfer warten: Ein junger, dunkelhaariger Mann, der mit einem grauen Kapuzenpulli und einer roten halblangen Sporthose bekleidet war. Nachdem er sich eine Weile warmgelaufen hatte, dehnte er seinen athletischen Körper. Er blickte dabei hinüber zum Waldrand – und damit John direkt ins Zielfernrohr.
»Ihr sollt unter keinen Umständen überhastet agieren! Aber wenn die Luft rein ist und ihr die Zielperson optimal im Visier habt, dann zögert nicht lange, sondern erledigt euren Job«, klingelten John die Worte seines Ausbilders in den Ohren.
Er atmete aus und drückte ab.
Während der durchtrainierte Sportler nach hinten umgerissen wurde und taumelnd in sich zusammenfiel, durchflutete John wieder dieses unbeschreiblich intensive, triumphale Glücksgefühl. An seinem gesamten Körper kribbelte es unter der Haut, die Haare an den Armen
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