Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
ziehen. Dann legte sie sich zu ihm in den überdimensionalen Hundekorb und schmuste ausgiebig mit ihm.
Tobias musste heute erst zur 3. Unterrichtsstunde im Rittersberg-Gymnasium erscheinen, trotzdem hatte er sich den Wecker auf 6 Uhr 30 gestellt. Als ambitionierter Sportler wollte er die wiedergewonnene Freiheit so bald wie möglich zum Training nutzen. Der wegen der tragischen Ereignisse abgebrochene Zehnkampf würde schließlich irgendwann nachgeholt werden. Und darauf musste er sich intensiv vorbereiten, denn an seinem Ziel hatte sich nach wie vor nichts geändert: Er wollte den uralten Zehnkampf-Pfalzrekord brechen, den der ehemalige FCK-Profi Hans-Peter Briegel noch immer hielt. Für den Fall, dass er dies tatsächlich schaffte, hatte er sich fest vorgenommen, den Erfolg seinem ermordeten Sportkameraden Marcel Christmann zu widmen.
Marieke hatte ihm bereits gestern Abend ihren Motorroller versprochen. Nach einem leichten Frühstück schnappte sich Tobias seinen Helm und knatterte über die Bremerstraße zu dem am Waldrand gelegenen Sportgelände. Auf der Fahrt dorthin beschäftigten sich seine Gedanken mit den dramatischen Ereignissen am letzten Samstag, dem 11. September.
Der Irre muss schon auf einem Baum gesessen sein und auf uns gelauert haben. Und keiner hat etwas davon mitgekriegt, überlegte er. Wie denn auch? An so etwas hätte ich noch nicht einmal im Traum gedacht. Er hätte genauso gut mich treffen können. Der arme Marcel.
Tobias Tannenberg stellte den Scooter auf dem Parkplatz ab und trottete mit hängendem Kopf ins Stadion. Nachdem er seine Spikes angezogen hatte, lief er sich ein paar Minuten warm. Dann führte er einige Steigerungsläufe durch. Zum Abschluss joggte er zum Startblock. Mit dem Rücken zur 100-Meter-Bahn dehnte er die Beinmuskulatur. Er blickte hinüber zu der mächtigen Buche, von der aus der tödliche Schuss auf Marcel Christmann abgegeben wurde.
Er hatte sein eigenes, verbranntes Fleisch gerochen.
Er hatte die glühende Speerspitze gesehen.
Er hatte die unerträglichen Schmerzen gespürt.
Er hatte seine Schreie gehört, sein Betteln, sein Flehen.
Er hatte keine Luft mehr bekommen.
Er hatte Panik, an der eigenen Angst zu ersticken.
Er hatte das Gelächter seiner Peiniger gehört.
Er hatte den eigenen Urin und Kot gerochen.
Er hatte ihre brutalen, zynischen Gesichter gesehen.
Er hatte sein eigenes Blut geschmeckt.
Er hatte das Klacken des Schlosses gehört.
Er hatte die Verzweiflung gespürt, die ihn im Genick packte, wenn die Tür aufging und sie wiederkamen.
Er hatte die pulsierenden Fragen in seinem Kopf gehört: Womit werden sie mich diesmal foltern? Werden sie mich jetzt töten?
Er hatte den nassen, kalten Beton gespürt, auf den er sich jedes Mal kauerte, wenn sie mit ihm fertig waren und sie ihn mit einem eiskalten, schneidenden Wasserstrahl abspritzten.
Und immer und immer wieder war dasselbe Bild auf seiner inneren Leinwand aufgetaucht: Er sitzt im Startblock, die Füße mit Draht auf den Abdruckplatten festgebunden. Stromstöße jagen in seine Fußsohlen, erschüttern ihn bis ins Mark hinein. Sie werden immer stärker, immer qualvoller. Die Muskelzuckungen werden immer schlimmer, das Herz rast immer schneller. Verzweifelt versucht er sich abzudrücken, zu fliehen. Doch er kommt einfach nicht los.
Dieses Lachen, dieses sadistische Lachen.
Seitdem war er nicht mehr der alte John.
Der alte John war vor einem Jahr in diesem Sportstadion gestorben.
Und der neue John hatte keine Freunde mehr, keine Familie, keinen Job.
Der neue John feierte auch keine Feste mehr, mied Menschen und war ständig in Angst, die Kontrolle zu verlieren und auszurasten.
Der neue John war fertig mit sich und der Welt.
Das Einzige, was ihn noch am Leben hielt, war der unbändige Wille, seinen finalen Kampfeinsatz erfolgreich zu Ende zu bringen. Mit diesem letzten Aufbäumen wollte er sich ein Denkmal setzen und allen beweisen, dass er der Beste war.
Die körperlichen Symptome ließen sich mit Medikamenten zumindest einigermaßen im Zaum halten. Aber gegen den Krieg im Kopf gab es kein wirksames Mittel. Er hatte alles Mögliche ausprobiert, doch nichts hatte geholfen. Die endlosen therapeutischen Sitzungen schon gar nicht. Irgendwann hatte er keine Lust mehr dazu und suchte stattdessen Trost und Hilfe in der Welt der Bücher.
Lange Jahre hatte er überhaupt nicht mehr gelesen, doch dann auf einmal las er wie ein Besessener. Besonders Friedrich Nietzsche hatte
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