Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
richteten sich auf und abwechselnd jagten heiße und kalte Schauder seinen Rücken hinunter. Benommen von diesem ekstatischen Taumel blickte er in das dichte Blätterdach über seinem Kopf. Plötzlich öffnete sich die Krone der alten Buche. Er schaute in ein gleißendes Licht, aus dem ein weißer Engel hervortrat und mit zarter Stimme aus der Offenbarung des Johannes zitierte:
›Danach sah ich, und siehe,
eine Tür war aufgetan im Himmel,
und die erste Stimme,
die ich mit mir hatte reden hören
wie eine Posaune, die sprach:
Steig herauf, ich will Dir zeigen,
was nach diesem geschehen soll.‹
Zwei Elstern ließen sich laut krächzend auf einer nahe gelegenen Astgabel nieder. Ein Ruck ging durch Johns Körper. Er schüttelte den Kopf und klatschte sich auf die Wange. Nun war er wieder bei Sinnen. Mit routinierten Griffen baute er die Waffe auseinander, verstaute sie im Rucksack und kletterte den Baum hinunter. In geduckter Körperhaltung hastete er zu dem leblos am Boden liegenden Sportler, packte ihn an seinem Kapuzenpulli und schleifte ihn ins Gebüsch. Dort vergewisserte er sich, dass er auch sein sechstes Opfer mit einem einzigen Schuss ins Herz getötet hatte. Danach befestigte er den Kabelbinder über dem Knöchel des Toten und bekreuzigte sich.
»Was, ein 18-jähriger Schüler?«, keuchte Tannenberg in den Hörer. Er dachte unwillkürlich an seinen Neffen Tobias, von dem er wusste, dass er freitagmorgens die ersten beiden Stunden keinen Unterricht hatte. Sein Magen krampfte sich zusammen und er schnappte nach Luft. »In Neidenfels? Alles klar, wir sind schon auf dem Weg.« Die Ortsangabe erlöste ihn von seiner Panikattacke.
Bereits zwanzig Minuten später bogen die Kaiserslauterer Kriminalbeamten von der B 39 in die Zwerlenbachstraße ab, an deren Ende sich der Sportplatz des SV Neidenfels in ein enges Seitental schmiegte. Die beiden Längsseiten des Sportgeländes grenzten direkt an ein Waldgebiet an. Wie zuvor in Rockenhausen hing der männliche Leichnam wieder über einem Metallrohr. Diesmal handelte es sich allerdings nicht um eine Wegschranke, sondern um ein Geländer. Zudem hatte der Täter sein Opfer nicht wie vorgestern mit dem Rücken auf der Stange abgelegt, sondern bäuchlings darüber gehängt.
»Die sechste Disziplin: 110 Meter Hürden«, stellte Dr. Schönthaler lapidar fest. Er checkte die Körpertemperatur des jungen Sportlers: »35,8 Grad. Ergo: Todeseintritt vor circa eineinhalb bis zwei Stunden.«
»Damit dürfte es mal wieder zu spät sein für unsere Ringfahndung«, knurrte Tannenberg, der diese routinemäßige Maßnahme sofort nach dem Anruf aus der Zentrale angeordnet hatte.
»Wir kommen eben immer zu spät.«
»Ja, Karl, leider. Der Mistkerl ist garantiert schon wieder über alle Berge. Von hier aus ist man in einer knappen Viertelstunde auf der Autobahn und kann in alle Himmelsrichtungen verschwinden.«
Mertel hatte den Kofferanhänger abgetrennt und las nun die beiden Nietzsche-Zitate vor, für die sich der unbekannte Täter diesmal entschieden hatte: »Ich schließe Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge. – Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn! – Liebe Grüße! John, steht darunter.«
»Also doch dieser ominöse John, von dem mir der Bundeswehr-Psycho berichtet hat.«
»Beziehungsweise dein geliebter Johannes«, schoss der Gerichtsmediziner einen weiteren giftgetränkten Pfeil in Richtung seines alten Freundes ab.
Tannenberg grummelte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Wenn der arme Nietzsche gewusst hätte, dass sein vergötterter ›Zarathustra‹ einmal von einem wahnsinnigen Hollywood-Schauspieler für eine Mordserie missbraucht werden würde, er hätte das Manuskript hundertprozentig vernichtet«, setzte der Rechtsmediziner gleich noch eins drauf, während er die Schusswunde näher inspizierte. »Wie langweilig: immer das Gleiche. Da kann ich mir die Arbeit wirklich sparen.«
Zu diesem Zeitpunkt saß John in St. Wendel in einer Gartenwirtschaft und labte sich am ersten neuen Wein der Saison. Dazu vertilgte er ein großes Stück Zwiebelkuchen. Seinen Rucksack hatte er am Bahnhof in einem Schließfach deponiert und war per pedes in die Fußgängerzone der saarländischen Stadt geschlendert. Das Katz-und-Maus-Spiel mit seinen Häschern bereitete ihm immer mehr Freude. Er versuchte sich in sie hineinzuversetzen, ihre Gedanken und
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