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Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall

Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall

Titel: Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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es ihm angetan. Er fühlte eine tiefe Verbundenheit mit ihm. Auch er war ein Ausgestoßener, einer, der gezwungen wurde, seinen eigenen Weg zu gehen. Sie waren Brüder im Geiste, Weggefährten hinauf zu Gipfeln, die nur wenige Menschen erklimmen konnten. Sie waren wahrhaft freie Geister, einsam, anders als alle anderen.
    Genau wie die Möwe Jonathan.
    Seine verstorbene Mutter hatte ihm oft daraus vorgelesen. In seiner Kindheit besaß dieses schmale Büchlein regelrechten Kultstatus, besonders unter den sogenannten ›Alternativen‹, zu denen auch seine Mutter zählte. Sie lebten damals in einem alten, idyllisch gelegenen Haus auf dem Lande. Aber irgendwann wurde ihm dieses beschauliche, selbstgenügsame Leben zu langweilig.
    Die pazifistischen Eltern traf fast der Schlag, als ihnen ihr gerade volljährig gewordener Sohn eröffnete, dass er die Schule abgebrochen habe und als Zeitsoldat bei der Bundeswehr angenommen worden sei. Die Eltern hatten sich nur wenige Monate danach getrennt. Zu seinem Vater brach daraufhin der Kontakt völlig ab. Bei seiner Mutter meldete er sich ab und an. Die Nachricht von ihrem Unfalltod traf ihn mitten während eines Kosovo-Einsatzes.
    Als John gegen 6 Uhr ›Die Möwe Jonathan‹ zur Hand nahm und ein wenig darin schmökerte, dachte er an seine Mutter. Ein wohliges Gefühl der Wärme und Geborgenheit breitete sich in ihm aus. Er wünschte sich zurück in diese unbekümmerte, friedliche, glückliche Zeit. Er seufzte tief und wischte sich mit dem Handrücken Tränen von den Wangen.
    Er legte das Buch beiseite und griff zu Nietzsches Hauptwerk ›Also sprach Zarathustra‹. An der zweiten, mit Klebezetteln markierten Stelle schlug er das gelbe Reclambändchen auf. Zwischen den Seiten steckte ein bedruckter Zettel. Schmunzelnd schob er ihn in einen schwarzen Kofferanhänger und verstaute diesen zusammen mit einigen Kabelbindern in seinem Rucksack. Nachdem er noch ein paar Zeilen in sein Tagebuch geschrieben hatte, packte er seine Sachen und machte sich auf den Weg zu neuen Taten.
     
    Bereits eine halbe Stunde nachdem Kriminaldirektor Eberle den ungewöhnlichen Ermittlungsauftrag erteilt hatte, lagen die ersten Rechercheergebnisse bezüglich der Identität eines gewissen Johannes Zörntlein vor: Weder beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden noch bei der Interpolzentrale in Lyon war eine Person dieses Namens bekannt.

13
    John stellte den silbergrauen Opel Astra auf dem Bahnhofsparkplatz ab. In dieser Region, in der ein Opelwerk zu den größten Arbeitgebern zählte, fiel sein Auto mit dem gestohlenen KL-Kennzeichen garantiert niemandem auf. Die Waffe hatte er wie üblich in seinem Wanderrucksack versteckt. Er war hoch konzentriert und dank seines bewährten Medikamentencocktails ruhig und gelassen.
    Er wanderte nicht auf direktem Weg zu der schon vor Monaten ausspionierten und präparierten Buche, sondern näherte sich seinem Zielort über eine Schleife, die ihn durch eine fast unberührte, herbstliche Waldlandschaft führte.
    Welche wunderschönen Farben, was für ein herrlicher, klarer Tag mit optimalen Sichtverhältnissen, dachte er und sog in einem tiefen Zug die kühle, würzige Luft ein.
    »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Dem will er seine Wunder weisen, in Berg und Wald und Strom und Feld«, intonierte er mit heiterer, aber abgesenkter Stimme.
    Als er von Weitem das Sportgelände erspähte, schlug er einen Haken und verließ den Wanderpfad. In vorsichtigem Storchenschritt watete er die letzten einhundert Meter durch unwegsames Gelände zu seinem schon vor Wochen auserkorenen Zielort. Er bewegte sich nahezu geräuschlos vorwärts: Nicht ein einziger Ast knackte und das bunte Herbstlaub raschelte nur leise unter seinen Füßen.
    Bei der mit einem kleinen roten Kreuz markierten Buche sondierte er seelenruhig die Umgebung. Neben einem Sterholzstapel entdeckte er einen Fuchs, der neugierig zu ihm herüberschaute. John nahm den Finger vor die Lippen und stieß einen leisen Zischlaut aus, woraufhin der Fuchs fluchtartig das Weite suchte.
    Lächelnd packte er den untersten Ast und hangelte sich an ihm hoch. Wie ein Affe erklomm er geschwind den Baum und nahm auf seiner Spähposition Platz. Den Rucksack hängte er an einen eigens abgesägten Ast, der als überdimensionierter Kleiderhaken fungierte. Der Zusammenbau seiner Präzisionswaffe ging ihm wie immer ausgesprochen leicht von der Hand. Er war darin geübt und konnte die Einzelteile sogar mit

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