Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
atmete auch er schneller, doch wirkte er kaum angestrengt, nur angespannt.
»Los, setzt euch wieder hin«, befahl John den Studenten.
Der sportlichere der beiden schob sich an der auf ihn gerichteten Pistole vorbei zu seinem Platz. Der kleinere Student schnaufte erst noch einmal kräftig durch, dann folgte er seinem Kommilitonen. Kurz vor Johns Sitz hob er den rechten Arm und packte einen der Haltegriffe. Seine Achselhöhle öffnete sich und verströmte einen üblen, penetranten Schweißgeruch.
Dieser Gestank traf John wie ein Keulenhieb.
Plötzlich war er an einem anderen Ort. Er saß in einem verwahrlosten Sportstadion auf einer Hantelbank. Wie im Kreuzhang hatte man seine Arme über die in etwa einem Meter Höhe auf Ständern befindliche Langhantelstange gelegt und die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Seine Beine hatte man mit Kälberstricken unter der Hantelbank so zusammengebunden, dass er sich kaum mehr bewegen konnte.
Mit Wettkampfspeeren veranstalteten seine Peiniger ein Zielwerfen auf ihn. Es war eine Mordsgaudi für sie. Die Soldaten tranken Bier und Schnaps, wetteten auf den besten Werfer. Die meisten der Speere verfehlten zunächst entweder ihr Ziel oder John konnte ihnen mit einer geschickten Verlagerung des Oberkörpers beziehungsweise Kopfes ausweichen. Aber dann reduzierten sie die Distanz und der erste Speer landete auf seinem Brustkorb. Die Folterknechte johlten laut auf, feierten den Werfer und drückten ihm mehrere Geldscheine in die Hand.
Im Moment des Aufpralls war sich John sicher, dass er nun schwer verletzt zusammenbrechen und an diesen Verletzungen sterben würde. Doch dem war nicht so. Zwar verspürte er einen höllischen Schmerz zwischen seinen Rippen, aber der Speer steckte nicht wie von ihm befürchtet in seinem Thorax fest, sondern er war an ihm abgeprallt und lag nun neben der Hantelbank. Mit entgeisterter Miene blickte er auf die Speerspitze.
Sie wollen mich nicht töten, noch nicht, schoss es durch seinen Kopf. Nein, sie wollen noch eine Weile ihren Spaß mit mir haben. Sie wollen mich nur verletzen und mich endlos quälen. Wie eine Katze, die eine Maus gefangen hat und die sie als Spielzeug am Leben lässt. Deshalb haben diese Schweine ein Stück der Spitze abgetrennt.
Der erfolgreiche Werfer kam zu ihm, setzte sich rittlings auf die Bank und fixierte ihn mit einem erbarmungslosen, eiskalten Blick. Es war der brutalste und sadistischste seiner Peiniger. Die fürchterliche Erinnerung an die Schmerzen, die ihm dieser perverse Folterer bereits zugefügt hatte, raubte John fast den Verstand.
Da war sie wieder, diese Angst, die wie eine kalte Faust sein Herz umklammerte. Von Panikattacken gemartert, versuchte er sich verzweifelt loszureißen, doch seine Fesseln gaben keinen Millimeter nach. Er hing wie Jesus am Kreuz, war seinem Schicksal hilflos ausgeliefert. Aber der Sadist reagierte völlig anders als erwartet: Mit einem hämischen Grinsen tätschelte er John die Wangen und küsste ihm aus Freude über seinen Geldgewinn auf die Stirn.
Der Gestank nach Schweiß war unerträglich.
Johns Atmung setzte aus. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleuderte er den Kopf herum und japste wie ein Ertrinkender nach Luft. Er griff sich an die linke Brust, seine Finger krallten sich so fest in seine Jacke, als wollte er sich bei lebendigem Leib das Herz herausreißen. Dann schnellte sein verkrampfter Körper in die Höhe und er packte die Kopfstütze der nächstgelegenen Sitze.
Gleich darauf kippte sein Oberkörper wieder nach vorne, so als ob er sich übergeben würde. Hechelnd schloss er die Augen, krächzte und stöhnte. Er kämpfte mit den Dämonen seiner Erinnerungen, versuchte sie zu erwürgen. Aber sie waren stärker, hatten einfach zu viel Macht über ihn. Wie in Zeitlupe richtete er sich auf.
Die Fahrgäste stierten ihn regungslos an. Keiner von ihnen kam auf die Idee, den Augenblick zu nutzen und den Serienmörder zu überwältigen. Alle wirkten wie paralysiert.
Johns Mund war ausgetrocknet, die Zunge klebte an seinem Gaumen. Er schluckte so hart, als steckte ihm etwas quer in der Kehle. Erst langsam atmete er wieder ruhiger, seine Atemzüge wurden tiefer. Blinzelnd schaute er durch das Heckfenster hindurch auf die von fahlem Laternenschein beleuchtete Freifläche vor dem Karstadtgebäude.
Tannenberg justierte das Fadenkreuz des Nachtsichtgerätes auf Johns maskierten Kopf ein. Die Blicke der beiden Männer schienen sich einen Moment lang zu begegnen. Wie
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