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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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machen, aber unser Erpresser war wohl noch raffinierter. Vermutlich spricht er seine Antwort in eine Diktier-Software, die daraus einen Text macht, den er dann vorlesen lässt. Sie haben sicherlich die kurze Verzögerung bei den Antworten bemerkt.«
    Das hatte Ellen, doch sie hatte den kurzen Pausen keine Bedeutung beigemessen. Die Konsequenzen aus der Erklärung des Phonetik-Experten waren ihr sofort klar. »Das bedeutet, dass wir eine Stimmauswertung vergessen können.«
    »So ist es.«
    »Scheiß Computerzeitalter!«
    »Wir haben die Gegenstelle der Skype-Verbindung lokalisiert«, meldete sich Khalid. »Es ist ein Rechner in Kairo.«
    »In Kairo? Was bedeutet das?«
    »Es handelt sich um eine Kette von Rechnern. Weiter konnten wir nicht zurückverfolgen. Es muss nicht wirklich der letzte Rechner gewesen sein.«
    Ellen riss sich zusammen, um nicht mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Wohin sie auch griff, sie griff ins Leere. Es war nicht zum Aushalten. Jetzt hatte sie mit dem Erpresser gesprochen und doch nicht den geringsten Anhaltspunkt. Der Kontakt mit dem Erpresser war nur kurz gewesen, aber er hatte ihr bereits eine Menge Grenzen vor Augen geführt. Grenzen, die Ellen nicht gewohnt war. Sie wollte agieren. Sie brauchte einen Ansatz, wie sie die Initiative bekam.
    In der Zentrale gab es nichts mehr zu besprechen, und den Technikern stand sie ohnehin nur im Weg. Ein Kaffee zusammen mit Sina war jetzt genau das Richtige. Der Weg zur Cafeteria führte durchs Foyer – eigentlich. Ellen öffnete die Tür zum Foyer und hörte eine bekannte Stimme. Dann sah sie ihn: Eberle. Und Eberle sah sie. Sofort stürzte der Reporter auf sie zu, den obligatorischen Kameramann im Schlepptau. Und die beiden waren nicht allein. Ein gutes Dutzend weitere Reporter, die Ellen nicht kannte, verfolgten wiederum den Kameramann. Es gelang ihr gerade rechtzeitig, im Gang zu verschwinden und die Tür zu schließen. Hier kamen nur Befugte hinein.
    »Wir wollen eine Pressekonferenz«, hörte sie Eberle rufen. Dann hämmerte es an die Tür.

5
     
    Ellen war nervös wie schon lange nicht mehr. Ihre Gedanken wanderten immer häufiger zu der Tafel Nuss-Schokolade, die für Notfälle in ihrer Schreibtischschublade lag. Nervennahrung. Bis gestern noch hätte sie sich als routiniert und abgebrüht bezeichnet. Wenigstens im Dienst. Privat zählte nicht, das war ein anderes Leben. Sie hatte eine Ausbildung hinter sich, die sowohl körperlich als auch psychisch höchst anspruchsvoll war, sowie etliche Jahre Erfahrung in richtig schwierigen Situationen. Sie war nie einem Kampf ausgewichen. Immer hatte sie alles fest im Griff gehabt. Aber jetzt?
    Die Ungewissheit war das Schlimmste. Ellen aß die ganze Tafel Schokolade auf einmal. Damit sollte ihr Gehirn genug Zucker für die nächste Herausforderung haben.
    Um Viertel vor eins ging Ellen wieder in die Zentrale und erkundigte sich nach dem Stand der Technik. Khalid hatte rote Flecken im Gesicht.
    »Wir haben alle erreichbaren Server der Polizei und einiger anderer Behörden zugeschaltet, die Homepage gespiegelt und …«
    Ellen winkte ab. »Ich bin überzeugt, dass Sie phantastische Arbeit geleistet und ein kleines Wunder vollbracht haben, aber die Details verstehe ich nicht. Was ich wissen möchte, ist: Wie viele Nutzer verkraften die Systeme jetzt, ohne zusammenzubrechen? Wir dürfen uns keine Panne erlauben.«
    »Achtzigtausend. Plus/minus zehntausend. Ganz genau kann man das nicht vorhersagen.«
    Achtzigtausend. Ellen war von der Leistung der Techniker ehrlich beeindruckt. Und erschrocken. So viele Leute konnten ihr zusehen. Am liebsten würde sie in ein Loch im Boden versinken. Im Hintergrund die Fäden zu ziehen, oder viel besser noch, im Kampfanzug einem realen Gegner gegenüberzustehen, das war ihre Welt.
    Ein bitterer Geschmack stieg ihre Speiseröhre hinauf. Ellen brauchte alle Konzentration, um ihre Übelkeit niederzukämpfen. Mit weichen Knien trat sie in die Mitte des Raums, wo alle sie sehen konnten. Und »alle« hieß dieses Mal, nicht nur alle Kollegen, sondern Tausende von Menschen an ihren Computern zu Hause. Khalid hielt eine Tafel hoch, auf der sechzigtausend stand. Die Übelkeit kehrte schlagartig zurück. Ellen lehnte sich an einen Tisch, unauffällig, wie sie hoffte. Die Digitaluhr sprang auf 13:00. Exakt zur gleichen Sekunde signalisierte Skype eine eintreffende Verbindung.
    »Guten Tag, Frau Faber. Schön, Sie wieder zu sprechen – und zu sehen.«
    Er kannte ihren Namen.

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