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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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vorgenommen, den Erpresser in ein Gespräch zu verwickeln, um den Technikern Zeit für die Fangschaltung zu geben. Normalerweise saß sie in solchen Fällen in einem abgeschirmten Einsatzwagen mit höchstens zwei weiteren Kollegen. Vor laufenden Kameras zu stehen und eine Verhandlung mit einem Erpresser zu führen, war doch etwas ganz anderes. Das war in keiner Ausbildung vorgesehen, und auf Erfahrungen konnte Ellen auch nicht zurückgreifen. Vor lauter Aufre- gung stellte sie sofort die Frage, die ihr am wichtigsten war: »Was wollen Sie?«
    »So schnell kommen Sie zur Sache?«, sagte der Erpresser. »Aber warum nicht.« Seine Stimme klang überaus freundlich und so ruhig, als ob sie im Café miteinander plauderten. Das hatte Ellen nicht erwartet. Häufig klangen Erpresser gehetzt. Man spürte den Druck, unter dem sie standen. Für einen Erpresser war seine Situation einmalig. Alles war neu. Das verleitete zu Fehlern, die ein routinierter Verhandlungsführer der Polizei ausnutzen konnte.
    Damit hatte Ellen gerechnet, und darauf hatte sie sich vorbereitet. Sie hatte Mühe, ihre Irritation zu verbergen. Die Vorstellung, dass Tausende von Menschen ihr ins Gesicht sahen, machte es nicht einfacher. Ellen warf einen Blick zu dem Monitor, der die Internetübertragung zeigte. Dort sah sie sich selbst. Sie fragte sich, ob sie eine gute Figur abgab. Das Bild begann zu flackern. Es blieb immer wieder stehen. Dann fror es ganz ein. Khalid bearbeitete hektisch seine Tastatur.
    Ellen wusste nicht, welches Gefühl überwog: die Erleichterung, dass die Öffentlichkeit wieder außen vor war, oder der Schreck, dass ihre Technik zusammenbrach.
    »Das habe ich mir gedacht«, kam wieder die Stimme des Erpressers, jetzt über Skype. Sie klang unverändert freundlich, als ob nichts geschehen wäre. »Ich habe Ihnen geraten, für gute Verbindungen zu sorgen, und jetzt klappt es nicht. Sie unterschätzen das Interesse unserer Mitbürger an Ihrer Arbeit. Das ist sehr bedauerlich.«
    Klang Spott in der Stimme mit? Ellen versuchte, den Tonfall des Mannes zu deuten, aber es gelang ihr nicht.
    Er redete schon wieder weiter. »Seien Sie unbesorgt. Das hier war nur ein Test, ob Sie gut vorbereitet sind. Um dreizehn Uhr geht es weiter. Dann wird es ernst. Enttäuschen Sie mich und unsere Mitbürger nicht.«
    Ein leiser Glockenton zeigte an, dass die Verbindung unterbrochen war. Es dauerte einen Moment, bis sich die ersten wieder regten. Khalid wischte sich die Handflächen an den Oberschenkeln ab.
    »Was war mit der Verbindung los?«, fragte Ellen. Ihre Stimme klang immer noch angespannt.
    Khalid sah von seinem Computer auf. »Die Nutzerzahlen sind sprunghaft angestiegen. Das haben unsere Server nicht verkraftet und sind zusammengebrochen.«
    »Wie viele Zugriffe?«
    »Schätzungsweise bei elftausend. Vielleicht auch bei zwölftausend oder dreizehntausend. Da konnte ich nichts machen. Das packt der Server nicht.«
    »Das muss besser werden. Irgendwie.« Langsam gewann Ellen ihre Sicherheit zurück. »Konnten Sie den Rechner des Erpressers lokalisieren?«
    »In diesem Datenwust? Unmöglich.«
    »Aber die Verbindung über Skype. Wo kam die her?«
    »Die Analyse läuft noch.«
    »Okay. Was sagt die Stimmanalyse?«
    »Männlich. Mitte dreißig. Keine Verzerrer zwischengeschaltet.«
    »Das habe ich selbst gemerkt. Was sonst?«
    Der Phonetik-Experte sah sich um, so als ob er sich nicht traute weiterzureden. »Eine Analyse wird uns nicht weiterbringen.«
    »Was soll das heißen? Irgendetwas müssen wir doch herausfinden können.«
    Ein Stimmabdruck war genauso individuell wie ein Fingerabdruck. Darüber hinaus bot eine Stimmprobe eine Unmenge an Informationen, neben Geschlecht und Alter häufig auch Hinweise auf Herkunft, Bildung, psychische Verfassung und manchmal sogar Krankheiten.
    »Leider nein. Hätte er einen Verzerrer genommen, hätten wir die Veränderungen rückgängig machen können. Aber der Erpresser hat überhaupt nicht gesprochen.«
    Ellen glaubte sich verhört zu haben. Wollte man sie auf den Arm nehmen? »Was soll der Unsinn? Ich habe ihn doch gehört.«
    »Haben Sie nicht. Sie haben einen Computer gehört.«
    »Nun reden Sie endlich! Wir haben nicht ewig Zeit.«
    »Der Erpresser hat eine Vorlese-Software benutzt.«
    »Vorlese-Software? Was ist das?«
    »Eine Software, die Ihnen das vorliest, was Sie gerade auf dem Rechner haben.«
    »Das heißt, er tippt den Text in den Computer und lässt den Computer dann reden?«
    »So könnte man es

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