Zehntausend Augen
haben?«
»Das bedeutet, dass Frau Faber morgen so auftreten soll, wie sie heute aufgehört hat, Sie Idiot«, sagte Marina Wirtz.
Ellen interessierte sich nicht für den Dialog. In Zeitlupe hob sie ihre Bluse auf, streifte sie wieder über und setzte sich auf einen freien Stuhl in einer Ecke.
6
Die Polizeioberkommissare Tobias Fendt und Holger Liebig waren sich der Gefahr bewusst, als sie mit dem Streifenwagen den Bus verfolgten. Wenigstens theoretisch. Praktische Erfahrung mit Bomben besaß keiner von beiden. Explodierende Busse kannten sie nur aus amerikanischen Action-Serien.
Nun war mit einem Mal die Kinowelt mitten in ihrem Leben angekommen. Aber nicht nur das. Sie bedrohte ihr Leben ganz konkret. Noch hätten sie der Bedrohung ausweichen können. Einfach einen Tick langsamer fahren. Niemand hätte ihnen einen Vorwurf gemacht. Niemand hätte es überhaupt bemerkt. Stattdessen rasten sie, so schnell es der Verkehr erlaubte, hinter der fahrenden Bombe her.
Jetzt waren sie dran. Tobias quetschte den Wagen trotz Gegenverkehr am Bus vorbei und setzte sich vor ihn. Dann dauerte es einen Moment, den Bus auf null herunterzubremsen.
Tobias und Holger wussten, dass in der Zentrale des LKA ein digitaler Countdown lief. Den genauen Stand kannten sie nicht. Man hatte ihnen eine Zahl genannt, die erschreckend klein war, aber sie hatten keine Zeit, um auf die Uhr zu sehen.
Kaum zum Stehen gekommen, sprang Holger aus dem Wagen und bemühte sich, die neugierigen Passanten zum Weitergehen zu bewegen. Er hatte kaum Erfolg. Die Massenträgheit war einfach zu groß. Zu dieser Zeit waren viele Leute unterwegs, und kaum hatte er an einer Stelle für Bewegung gesorgt, bildete sich an einer anderen eine neue Traube Zuschauer.
Tobias kämpfte währenddessen mit den Fahrgästen. Auch auf die Gefahr einer Panik hin brüllte er das Wort »Bombendrohung« in den vollen Bus. Es kam auf jede Sekunde an. Jede kleinste Verzögerung konnte Menschenleben kosten. Zu Tobias' großem Erschrecken passierte erst einmal außer unbeschreiblicher Hektik so gut wie nichts. Alle schrien wild durcheinander. Dann drängten plötzlich alle gleichzeitig zu den zwei Türen und klemmten sich dabei gegenseitig ein. Eine alte Frau klammerte sich an ihre viel zu große Tasche und wollte sie um alles in der Welt nicht loslassen. Die Grundschüler, die sich bevorzugt oben aufhielten, verkeilten sich mit ihren Ranzen auf der schmalen Treppe nach unten oder stießen sie anderen ins Gesicht. Tobias musste diesem unbeschreiblichen Durcheinander hilflos zusehen. Er konnte nicht einfach an einen Engpass gehen und helfen. Dazu war der Bus zu voll. Seine gebrüllten Anweisungen gingen im allgemeinen Tumult unter. Dabei tickte die Uhr. Während ein Riesen-Airbus mit mehr als achthundert Passagieren in achtzig Sekunden geräumt werden konnte, ging die Evakuierung eines alltäglichen Linienbusses skandalös langsam vonstatten.
Tobias wusste nicht, wie lange die ganze Aktion gedauert hatte, als er dem letzten Fahrgast, einem gehbehinderten Mann, aus dem Bus half. Auf jeden Fall viel zu lange, das war klar. Nach dem ersten Stand des Countdowns hätte der Bus längst explodiert sein müssen, aber alle Fahrgäste und auch er selbst lebten noch. Der Countdown musste gestoppt worden sein.
Weitere Streifenwagen trafen ein. Aus der Zentrale kamen keine Anweisungen, aber was jetzt zu tun war, kannten sie zur Genüge: weiträumige Absperrung, Krankenwagen anfordern zur Betreuung der Fahrgäste, die die eine oder andere leichte Verletzung erlitten hatten, Evakuierung der nahe liegenden Gebäude, Anforderung der Bombenspezialisten.
Fast zeitgleich mit dem letzten Streifenwagen traf die Presse ein. Natürlich hatten sie die Ereignisse über die Internetseite der Polizei verfolgt. Und natürlich besaßen sie Stadtpläne und kannten die Buslinien. Die Menge der Reporter wuchs beängstigend schnell. Tobias und Holger schafften es kaum, die wachsende Meute hinter der Absperrung zu halten.
»Wo kommen die denn alle her?«, fragte Holger.
»Hauptstadtbonus. Wir haben Pressevertreter aus der ganzen Welt hier, und wegen des Außenministertreffens der G20 sind es besonders viele.«
»Das ist doch erst in einer Woche.«
»Die Presse ist schon vorher da. Sie wollen sich die besten Plätze sichern.«
Holger sah sich um. »Die besten Plätze in Berlin sind anscheinend hier bei uns.«
»Vor allem da oben.« Tobias zeigte auf die Balkone der nächsten Häuser, die gerade außerhalb
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