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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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heißen?«
    Die Dämonenstimme lachte herausfordernd. »Es geht um alles oder nichts. Sie wollen meine Identität – ich will Ihre Seele.«
    In der Zentrale wurde es vollkommen still. Die Stimme war verstummt. Selbst Burgsmüller schwieg. Damit hatte niemand gerechnet. Es war wieder eine neue Situation. Nichts, worauf man sich hätte vorbereiten können. Ellen wurde eines klar: Auf diesem Level ging es um keinen Anschlag. Es gab keine Bombe. Es ging ausschließlich darum, ob sie den Erpresser fassen konnten oder nicht.
    Jetzt kapierte auch Burgsmüller. Ellen erkannte es an seinen Augen.
    »Was meinen Sie mit Ich will Ihre Seele ?«
    »Bezahlen Sie! Ziehen Sie sich vor aller Welt aus. Opfern Sie den letzten Rest Ihres Privatlebens vor der Öffentlichkeit. Gehen Sie so weit, wie Sie nie gehen wollten. Oder Sie werden nie erfahren, wer ich bin.«
    Die dunklen Wolken auf dem Monitor wurden fast schwarz. Glühende Lava-Fontänen spritzten auf. Darüber wurde eine Sechzig eingeblendet. Der Countdown begann.
    Die ersten zehn Sekunden verstrichen.
    »Ziehen Sie Ihren Slip aus«, sagte Burgsmüller.
    Ellen rührte sich nicht.
    Vierzig.
    »Ziehen Sie sich endlich aus. Sie riskieren, dass der Kerl uns durch die Lappen geht«, flüsterte Burgsmüller in Ellens Ohr.
    Ellen begriff, dass sie Burgsmüller völlig egal war. Er wollte den Erpresser fassen. Sie war einfach ein Mittel zum Zweck. Und wenn der Zweck es erforderte, wurde dieses Mittel eben verheizt. Burgsmüller musste nicht damit leben, vor allen Menschen nackt dagestanden zu haben und per Film und Fotos herumgereicht zu werden.
    Sie war keine Marionette, weder die eines Erpressers noch die eines Vorgesetzten. Um Menschenleben zu retten, war sie zu allem bereit, aber nicht, um den Forderungen eines Burgsmüller, Kronen oder sonst wem zu entsprechen.
    Und ob der Erpresser wirklich seine Identität preisgeben würde, war mehr als zweifelhaft. Er hatte sie oft genug böse hereingelegt.
    Dreißig.
    Ellen sah zu Burgsmüller. Der machte mit den Händen Zeichen, sie solle ihren Slip ausziehen.
    Zwanzig.
    »Bezahlen Sie!«, forderte die Stimme erneut.
    Fünfzehn.
    »Nein«, sagte Ellen ruhig. »Ich werde nicht bezahlen. Ich verkaufe meine Seele nicht.«
    Burgsmüller machte einen Schritt nach vorn, auf Ellen zu. Fast wäre er dabei über die Markierung getreten, doch er konnte sich gerade noch zurückhalten.
    »Sie können den Preis selber bezahlen, Burgsmüller. Wenn Sie den Mut dazu haben«, sagte Ellen. Sie griff in ihren Nacken, riss mit einem kräftigen Ruck das Klebeband samt Empfänger los und warf es Burgsmüller vor die Füße. Der wurde bleich.
    Aus dem Lautsprecher gellte eine ohrenbetäubende Explosion. Auf dem Monitor erschien eine Schrift aus Flammen:
    GAME OVER! You lose.
     
     
    Dann war kein Ton mehr zu hören. Die Schrift erlosch. Die Internetverbindung wurde gekappt. Die Monitore wurden schwarz. Ellen hielt den Atem an. Ging doch eine Bombe hoch? Gab es andere Schreckensmeldungen?
    »Fuck!«, schrie Burgsmüller und rannte hinaus. In der Ersatzzentrale brüllte er immer noch so laut, dass Ellen ihn hören konnte. Er trieb seine Leute an. Gab es Statusmeldungen aus der Stadt? Der Lärmpegel in der Ersatzzentrale änderte sich nicht. Ellen wartete fünf Minuten. Von nirgendwo schienen Katastrophenmeldungen einzutreffen. Es war vorbei.

43
     
    Das lange Bad hatte gutgetan. Burgsmüller war so mit seinen Leuten beschäftigt gewesen, er hatte gar nicht bemerkt, dass Ellen gegangen war. Während sie sich die Haare trocken rubbelte, warf sie einen Blick auf ihren Dienstplan, der an ihrer Pinnwand in der Küche hing. Eine gnädige Fügung hatte ihr für morgen einen freien Tag beschert. Leider war kaum damit zu rechnen, dass Kronen oder Burgsmüller Rücksicht darauf nehmen würden. Die akute Gefahr war anscheinend gebannt, aber damit gingen die Ermittlungen erst richtig los. Burgsmüller würde in den nächsten Wochen Ellens Leben minutiös auseinandernehmen und das Unterste nach oben kehren. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie auf seiner Liste der Hauptverdächtigen einen prominenten Platz einnahm. Und sie würde nichts tun können, um sich gegen die Anschuldigungen zu wehren.
    Ellen strich mit der Hand über die glatte Oberfläche ihres Laptops, den sie aus ihrem Büro mitgenommen hatte. Ob Burgsmüller ihn schon vermisste? Offiziell galt der Rechner wahrscheinlich noch als Beweismaterial. Doch es waren keine relevanten Daten mehr drauf.

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