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Zehntausend Fallen (German Edition)

Zehntausend Fallen (German Edition)

Titel: Zehntausend Fallen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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in der Mitte, wo die Haut am zartesten war und es besonders weh tat. Annes Hand tastete zu der schmerzenden Stelle, bis sie etwas Hartes fühlte. Nicht besonders groß, aber spitz. Vorsichtig zog sie daran, bis sie das Teil in der Hand hielt: eine Schraube, die sich anscheinend im hohen Flor des Teppichs versteckt hatte.
    Anne humpelte zu ihrem Schreibtischstuhl und hinterließ bei jedem Schritt einen kleinen, roten Fleck auf dem Weiß ihres Teppichs.
    „Scheiße!“
    Diese Flecken ärgerten sie mehr als die Verletzung. Das war mit einem Pflaster schnell erledigt, aber die Flecken würden Arbeit machen. Ärgerlich wollte sie die Schraube in eine Ecke werfen, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. Dann hätte sie nur lange suchen müssen. Die Schraube wurde noch gebraucht. Sie stammte offensichtlich von ihrem Schreibtischstuhl, denn die Sitzfläche wackelte beim Hinsetzen. Er war wirklich schon in die Jahre gekommen und das Sitzpolster war abgewetzt, aber das war ihr egal.
    Anne suchte einen Platz auf ihrem Schreibtisch, wo sie die Schraube bis zur Reparatur deponieren konnte, ohne dass sie in Bergen von Papier unterging. Seit sie mit ihrer Promotion begonnen hatte, türmten sich die Entwürfe ihres Manuskripts übereinander. Die Briefwaage bot sich an. Sie wurde fast nie gebraucht und ragte über die Lagen von Papier heraus. Ein Geschenk zu Weihnachten, eines der wenigen modernen Stücke, die Anne besaß. Die Waage schaltete sich automatisch ein, sobald etwas darauf gelegt wurde. 9,5 Gramm zeigte die Digitalanzeige sofort.
    Anne staunte: „Keine zehn Gramm und so ein Ärger.“
    Sie hatte nicht die geringste Ahnung, dass ein sehr ähnliches Teil ihr Leben radikal verändern würde - und nicht nur ihres.
     
    Anne ließ die Schraube achtlos liegen. Die Waage schaltete sich nach 20 Sekunden von alleine aus. Um nicht noch mehr Flecken auf den Teppich zu machen, hüpfte sie auf einem Bein ins Bad und versorgte die Wunde. Anne beschloss, dass sie für heute genug gearbeitet hatte und etwas Entspannung verdiente. Sie schlüpfte in ihre Shorts, zog ein T-Shirt über und machte sich auf den Weg nach draußen. Es war kurz nach Mitternacht und stockdunkel, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil. Es war die ideale Zeit.
    Leise schloss Anne die Wohnungstür und trat in den kurzen Gang, der zur Treppe führte. Ihre Vorsicht war unnötig. Lisa, ihre Freundin im Nachbarappartement, schlief nicht. Hinter ihrer Wohnungstür rumpelte und polterte es. Wenige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und Lisa stürmte heraus, genau in Annes Arme.
    „Du hast es heute aber eilig. Wo willst Du denn jetzt noch hin?“, wurde sie von Anne empfangen. „Ach, ich sehe schon, wieder auf eine Party.“
    Lisa war unübersehbar partymäßig angezogen. Sie trug ein silbrig glänzendes Top aus dem neuesten, eng anliegenden Material. Ihr Rock war ungefähr so lang, wie ihre Taille breit war - und Lisa hatte eine sehr schmale Taille. Dazu trug sie Sandaletten mit hohen Absätzen.
    „Du hast anscheinend noch viel vor.“
    „Klar. Von nichts kommt nichts. Es gibt eine große Party in Frankfurt.“
    „Die Jungs werden in Ohnmacht fallen, wenn sie dich so sehen.“
    „Quatsch! Die sind einiges gewohnt. Außerdem ist die Konkurrenz groß, da muss man sich etwas einfallen lassen. Und was machst du hier auf dem Flur? Auch auf Tour gehen?“
    „Ach, was. Kein Interesse an Partys. Das weißt du doch.“
    „Wieder in den Wald?“, wollte Lisa wissen.
    „Ja, in den Wald. Ich muss mich dringend entspannen. Heute war ein beschissener Tag.“
    Auf den ‘beschissenen Tag’ ging Lisa nicht ein, aber der Wald hatte es ihr angetan. „Ich glaub’ es nicht. Allein in den Wald. Willst du da einen Baum aufreißen? Du spinnst doch.“
    „Ich will gar nichts aufreißen. Ich will meine Ruhe haben.“
    „Komm mit mir“, versuchte Lisa Anne zu locken. „Da kannst du dich auch entspannen. Du wirst schon sehen.“
    „Kein Bedarf.“
    „Mir gefällt es gar nicht, dass du alleine in der Nacht durch den Wald gehst. Ich bin zwar nicht deine Mutter, aber immerhin deine Freundin. Und ich mache mir Sorgen um dich. Das ist viel zu gefährlich.“
    „Ich habe keine Angst. Außerdem, wo ist die Wahrscheinlichkeit größer, einem Verbrecher zu begegnen? Nachts im Hofheimer Wald oder abends am Frankfurter Hauptbahnhof?“
    „So kannst du das doch nicht sehen“, widersprach Lisa.
    „Warum nicht? Die Gefahr im Wald ist eine Sache von früher, heute tickt die Welt

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