Zehntausend Fallen (German Edition)
rücken, was aber nicht ging. In der Ferne war die Kugel des Funkturms am Alexanderplatz gut zu sehen. Hajo saß stocksteif da wie eine Gipsfigur.
Ellen beobachtete ihn durch das Fenster der Balkontür. Im Prinzip konnte ihm nichts passieren, selbst wenn der Balkon abbrechen würde, was trotz des miserablen Zustands ziemlich unwahrscheinlich war. Aber diese rationalen Argumente spielten bei dem Gefühlsorkan, den Ellen in Hajo entfesselt hatte, keine Rolle.
Einen Moment lang wollte Mitleid in ihr aufkommen. Sie drängte es energisch zurück. Hajo war ein Verbrecher, einer, der Tausende Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Aber das war nicht der Grund, weshalb Ellen ihren mitleidigen Gefühlen keinen Raum gab. Hajo musste so fühlen. Diese radikale Methode war die einzige Möglichkeit, von Hajos Erpressung loszukommen. Hajo war voller Tricks und würde sich hundert Wege ausdenken, um sich aus einer Zwickmühle herauszuwinden. So gut kannte sie ihn. Wenn sie wirklich etwas in ihrem Sinn erreichen wollte, musste sie quasi sein Gehirn ausschalten. Dazu brauchte sie seine Panik.
Hajo begann, zögerlich zu tippen. Wenn er so weitermachte, würde er doch noch auf dumme Gedanken kommen. Ellen öffnete die Tür, ging wieder auf den Balkon und stampfte fest auf. Der Betonboden zitterte. Hajo zitterte noch mehr.
»Hm«, sagte Ellen. »Noch hält er. Fragt sich nur, wie lange. Du solltest dich beeilen.«
Ellen ging wieder in die Wohnung.
Hajo begann, schneller zu tippen, immer schneller. Es dauerte etwa zehn Minuten, dann wurde er wieder langsamer. Schließlich klappte er den Laptop zu.
»Fertig?«, fragte Ellen.
Hajo nickte kaum merklich.
»Wenn du mich betrogen hast, wirst du das bitter bereuen.«
Hajo schüttelte den Kopf – ebenso kaum merklich. Er war schweißgebadet und offensichtlich fertig. Fix und fertig.
Ellen nahm ihm den Laptop ab und löste die Handschellen. Sie musste Hajo vom Balkon ziehen, weil er sich nicht zu bewegen traute. Sie zog ihn bis zur Couch.
Hajo stand kurz auf und sackte dann auf der Couch zusammen. Ellen bettete ihn längs hin, setzte sich selbst und nahm seinen Kopf auf ihre Oberschenkel. Hajo rührte sich nicht.
Seltsam, dachte Ellen. Das letzte Mal habe ich hilflos auf einem Bett gelegen, und er hat neben mir gesessen. Irgendwie ähnelten sich die Situationen – nur mit vertauschten Rollen.
Hajo schlug die Augen auf und sah Ellen an. »Mach das nie wieder.«
Ellen strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. »Wenn du mir keine Veranlassung dazu gibst.«
»Ich habe alle Bilder aus dem Internet genommen und werde sie nie wieder einstellen.«
Die Art, wie Hajo »aus dem Internet« sagte, ließ einen Verdacht in Ellen aufkeimen. »Du hast sie nur aus dem Internet gelöscht, aber nicht grundsätzlich?«
Jetzt lächelte Hajo wieder. »Ich habe genau getan, was du gesa gt hast. Und von grundsätzlich löschen war nie die Rede.«
Ellen konnte es nicht fassen. Das war typisch Hajo. Er hatte wieder eine Lücke gefunden. Er liebte die Bilder von ihr so sehr, dass er sogar auf dem Balkon noch einen Weg gefunden hatte, sie zu behalten. Nun gut, sollte er sie behalten. Sollte er sich ansehen, wie sie nackt durch ihre frühere Wohnung lief, was er heimlich selbst aufgenommen hatte, oder die erotischen Szenen, die ihr Ex, Stefan Daudert, gefilmt hatte. Hajo kannte die Bilder sowieso. Ellen wusste, dass er sie sich jeden Tag ansah. Si e schienen ihm mehr zu bedeuten als alles andere, sogar mehr als seine Angst auf dem Balkon.
»Behalte die Aufnahmen«, sagte Ellen. »Ich schenke sie dir.«
Hajo lächelte zufrieden. »Danke. Das mit dem Balkon war übrigens eine harte Nummer. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich befürchte, diese Runde unseres Spiels geht an dich. So was ist mir noch nie passiert.«
»Man kann nicht immer gewinnen«, sagte Ellen.
»Gegen dich zu verlieren, ist keine Schande. Ich habe auch einen Preis für dich.«
»Einen Preis?« Ellen war überrascht. »Warum einen Preis?«
»Jeder Sieger bekommt einen Preis. Das gehört sich so. Ich habe dir etwas überwiesen, als Entschädigung für alles, was man dir kaputt gemacht hat.«
»Wo hast du das Geld her? Ich will kein illegales Geld.«
Hajo schüttelte den Kopf. »Du bist und bleibst die Alte, aber du kannst beruhigt sein. Ich habe kurzfristig mit dem Geld von Veritatis spekuliert – genau andersherum als Hasels. Es hat sich gelohnt, und es ist alles ganz legal. Langweilig, aber legal.«
»Wie
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