Zehntausend Fallen (German Edition)
zu fassen. Ellen hatte gelernt, solche Empfindungen nicht zu ignorieren. Manchmal konnte man dadurch Situationen schneller erfassen als mit rein rationalem Denken.
Ellen ging nicht sofort zur Theke, sondern trat einen Schritt zur Seite und tat so, als würden sie die Aktionswaren interessieren. Dabei horchte sie aufmerksam in sich hinein und verglich ihre jetzigen Empfindungen mit denen, die sie normalerweise hatte.
Normalerweise kam sie hier herein und wurde umhüllt von dem Duft frischer Brötchen, dem Geruch von Kuchen und dem Aroma von Kaffee. Eine Atmosphäre zum Wohlfühlen, in der man nicht anders konnte, als zu kaufen. Meisten s mehr als beabsichtigt. Heute war es, als läge Gift in der Luft. Natürlich dufteten die Brötchen, der Kuchen und der Kaffee.
Trotzdem. Die Verkäuferin war die gleiche wie gestern und vorgestern. Sie machte einen missmutigen Eindruck. Sie lief nicht geschäftig hin und her, sondern aggressiv. Kein freundliches Wort, wenn sie die Tüten über die Theke reichte. Die Kunden nahmen ihre Tüte in Empfang und gingen mit finsterem Gesicht.
Jetzt ging Ellen selbst zur Theke. »Zwei Brötchen, bitte.«
Die Verkäuferin stopfte die Brötchen wortlos in eine passende Tüte. Ellen hielt ihr die abgezählten ein Euro zwanzig hin.
Die Verkäuferin warf einen kurzen Blick auf das Geld. »Eins fünfzig«, sagte sie kurz und genervt. Dabei zog sie die ausgestreckte Hand mit Ellens Tüte wieder zurück.
Ellen stutzte. »Gestern kosteten zwei Brötchen ein Euro zwanzig.« Sie hatte die Diskussion der alten Dame noch nicht vergessen.
»Gestern!«, sagte die Verkäuferin patzig. »Gestern war gestern, und heute ist heute. Heute sind zwei Brötchen eben eins fünfzig.«
So war Ellen noch nie bedient worden. »Geht das auch etwas freundlicher?«
»Freundlichkeit kostet zwei Euro extra.«
Ellen kannte die Berliner Schnauze nur zu gut, aber das war doch etwas heftig. »Was ist los?«
Die Frau rümpfte die Nase. »Wenn Sie sich anhören müssten, was ich schon seit Stunden höre, wären Sie auch nicht freundlich. Ein paar sind sogar einfach mit ihrer Tüte gegangen, und ich kann am Ende die Differenz zahlen, wenn was in der Kasse fehlt.«
Diesen Ärger verstand Ellen gut. »Die Kunden waren sicher über die Preise sauer.«
»Natürlich sind es die Preise, aber ich mache die nicht. So, und jetzt der Nächste bitte.«
Ellen bekam beim Hinausgehen noch die ersten Sätze einer Diskussion mit, die die nächste Kundin anzettelte. Ellen schüttelte den Kopf. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Diese Atmosphäre und diese Preissteigerungen. Vor einiger Zeit hatten die Brötchen noch fünfunddreißig Cent gekostet, gestern sechzig und heute fünfundsiebzig. Im Schaufenster lag das Preisschild für ein gewöhnliches Weizenmischbrot: vier Euro achtzig. Ellen sah zweimal hin. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht.
Die miese Stimmung konnte Ellen gut nachvollziehen. Wer für mehrere Personen einkaufte, musste bei diesen Preisen schon tief in die Tasche greifen. Steigende Preise hatte es schon immer gegeben, aber so nicht. Hatte das etwas mit den Selbstmorden zu tun? Ellen spürte, wie es in ihrem Unterbewusstsein in diese Richtung arbeitete.
Das Gefühl, einer Antwort nahe zu sein, verflog schlagartig, als Ellen vor ihrer Wohnungstür stand. Aufgebrochen. Die Kratzer am Schloss waren nicht zu übersehen. Die Einbrecher hatten sich nicht allzu viel Mühe gegeben, sondern waren einfach nur brutal vorgegangen. Ellen legte die Brötchentüte geräuschlos auf den Boden. Die Tür stand einen winzigen Spalt weit auf.
Sie lauschte angespannt. Nichts zu hören. In Zeitlupe schob sie die Tür so weit auf, dass sie in die Wohnung sehen konnte. Von den Einbrechern war nichts zu sehen, wohl aber von dem Chaos, das sie hinterlassen hatten. Ellen schob die Tür vollständig auf und schlich auf Zehenspitzen hinein, immer darauf gefasst, dass plötzlich jemand auftauchte und sie angriff. So arbeitete sie sich Stück für Stück vor, bis sie alle Winkel kontrolliert hatte. Es war niemand mehr da.
Erst jetzt hatte Ellen Augen für ihr Inventar. Die Einbrecher hatten böse gewütet. Sie hatten nicht nur alles durchsucht, Schubladen lagen herausgerissen auf dem Boden, der Inhalt war wahllos verstreut. Kein Buch stand mehr im Bücherregal. Gläser lagen zersplittert herum. Es sah fürchterlich aus.
Sie sind nicht zum Stehlen gekommen. Sie wollten zerstören. Dieser Einbruch ist eine Warnung.
Ellen sah sich um.
Haben
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