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Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Titel: Zehnter Dezember: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Saunders
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alten, vertrauten Weg.
    Was zum Henker? Was zum Henker war gerade passiert? Er war in den Teich gefallen? Seine Jeans steifgefroren? Das waren keine Blue Jeans mehr gewesen. Eher White Jeans. Er schaute an sich herunter, ob seine Jeans immer noch White Jeans waren.
    Er hatte eine Schlafanzughose an, die in irgendwelchen gigantoiden Stiefeln steckte und nach einer Clownshose aussah.
    Hatte er gerade eben geweint?
    Ich finde, Weinen ist gesund, sagte Suzanne. Das bedeutet, du bist im Kontakt mit deinen Gefühlen.
    Puh. Das war vorbei, wie dämlich, sich im Geist mit einem Mädchen zu unterhalten, das einen im wahren Leben Roger nannte.
    Mist.
    So müde.
    Da war ein Baumstumpf.
    Er setzte sich hin. Gutes Gefühl, sich auszuruhen. Er würde seine Beine nicht verlieren. Sie taten nicht mal weh. Er spürte sie gar nicht. Er würde nicht sterben. Sterben hatte er in seinem jungen Alter gar nicht auf dem Schirm. Um sich etwas wirksamer auszuruhen, legte er sich hin. Der Himmel war blau. Die Kiefern wogten. Nicht alle im selben Maße. Er erhob eine behandschuhte Hand und beobachtete, wie sie zitterte.
    Vielleicht machte er mal ein bisschen die Augen zu. Manchmal im Leben verspürte man so einen Wunsch, alles hinzuschmeißen. Dann würden sie alle begreifen. Jeder würde begreifen, dass Hänseln nicht nett war. Manchmal waren seine Tage vor lauter Hänseln suberträglich. Manchmal hatte er das Gefühl, er konnte es nicht ein einziges Mal mehr aushalten, sein Mittagessen unterwürfig auf der zusammengerollten Ringermatte neben dem zerbrochenen Barren in der Ecke der Cafeteria zu verzehren. Er musste da nicht sitzen. Es war ihm nur lieber so. Wenn er woanders saß, bestand immer die Gefahr, ein, zwei Bemerkungen abzukriegen. Über die er dann den Rest des Tages nachdenken konnte. Manchmal gab es Bemerkungen darüber, dass es bei ihm zu Hause unaufgeräumt war. Dank Bryce, der ihn einmal besucht hatte. Manchmal gab es Bemerkungen darüber, wie er redete. Manchmal gab es Bemerkungen über die Styling-Fauxpas seiner Mom. Die, das muss man schon sagen, ein echtes Mädel der 80er geblieben war.
    Mom.
    Er mochte es gar nicht, wenn sie ihn wegen Mom hänselten. Mom hatte keine Ahnung von seinem niederen Status in der Schule. Mom sah ihn eher als ein Musterbeispiel oder den Typus Goldjunge.
    Einmal hatte er in geheimer Messung Moms Telefonate aufgenommen, nur um das Auskundschaften mal auszuprobieren. Meistens waren sie öde, banal, drehten sich gar nicht um ihn.
    Außer dieses eine mit ihrer Freundin Liz.
    Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich jemanden so sehr lieben könnte, hatte Mom gesagt. Ich mache mir nur Sorgen, dass ich ihm nicht gerecht werden kann, weißt du? Er ist so gut , so dankbar . Dieser Junge verdient – dieser Junge verdient einfach alles. Eine bessere Schule, die wir uns nicht leisten können, ein paar Reisen, ins Ausland zum Beispiel, aber das ist auch, äh, außerhalb unserer Preisklasse. Ich will ihn bloß nicht hängenlassen , verstehst du? Sonst will ich gar nichts von meinem Leben, verstehst du? Liz? Nur das Gefühl, am Ende, dass ich es richtig gemacht habe mit dem kleinen Prachtkerl.
    In dem Moment hörte es sich so an, als hätte Liz den Staubsauger eingeschaltet.
    Kleiner Prachtkerl.
    Er sollte wohl mal weitergehen.
    Kleiner Prachtkerl war quasi sein Indianername.
    Er rappelte sich hoch, sammelte die Unmenge Kleider auf, wie eine Art hinderliche Königsschleppe, und machte sich auf den Heimweg.
    Da war der Lkw-Reifen, da die Stelle, wo der Weg kurz breiter wurde, da die Stelle, wo sich die Bäume oben kreuzten, als streckten sie sich die Hände entgegen. Flechtdecke, sagte Mom dazu.
    Da war der Fußballplatz. Auf der gegenüberliegenden Seite hockte sein Haus wie ein dickes süßes Tier. Es war unglaublich. Er hatte es geschafft. Er war in den Teich gefallen und hatte es überlebt und konnte davon erzählen. Er hatte ein bisschen geweint, na schön, aber dann hatte er einfach diesen Augenblick sterblicher Schwäche weggelacht und sich mit ironisch-zerstreuter Miene auf den Heimweg gemacht, wobei er, das musste er schon zugeben, durchaus von der sehr dankenswerten Unterstützung eines gewissen älteren –
    Erschrocken erinnerte er sich an den alten Kerl. Was zum Henker? Ein Bild blitzte auf, der alte Kerl, der mit blauer Haut einsam und verlassen in seinen langen weißen Unterhosen dastand, wie ein Kriegsgefangener, den sie am Stacheldraht hatten stehen lassen, weil kein Platz mehr auf dem Laster

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