Zehnundeine Nacht
guter Beobachter. Eingesperrt in sein Glas, hatte er nie etwas anderes tun können als zuzusehen und zuzuhören. Er kannte alle Schulbücher, die der Junge für seine Hausaufgaben gebraucht hatte, er wusste alle Melodien zu summen, die er sich auf seinem CD-Player angehört hatte, und er konnte ihm sogar verraten, wer von seinen Freunden das Fußballbildchen mit dem Weltmeister-Torwart gestohlen hatte, das in seiner Sammlung fehlte.»
«Praktisch», sagte der König.
«Sehr praktisch», bestätigte die Prinzessin. «Die beiden, der Junge und sein zweiter Kopf, wurden sich schnell einig, dass sie niemandem etwas von ihrer neugefundenen Vertrautheit verraten wollten. Der Junge fürchtete, dass man ihm den Kopf sonst wegnehmen würde. Außerdem hat man in diesem Alter gern Geheimnisse.»
«Und niemand hat bemerkt, dass der Kopf nicht mehr in seinem Glas steckte?», fragte der König. «Noch nicht einmal die Mutter des Jungen?»
«Eine Mutter kommt in der Geschichte nicht vor», sagte die Prinzessin.
«Ist ja gut, ist ja gut», sagte der König. «Du brauchst mich deswegen nicht anzublaffen.»
«Entschuldige», sagte die Prinzessin.
«Schon gut», sagte der König.
«Der Junge und sein zweiter Kopf», erzählte sie weiter, «wurden gute Freunde. Jeder wusste alles vom andern, und sie vertrauten sich auch die Dinge an, über die man sonst mit niemandem spricht. Als der Junge älter wurde und sichsein Körper zu verändern begann, erzählte er dem Kopf, wie sich das anfühlte. Der Kopf schilderte ihm dafür, wie schwierig es war, überhaupt keinen Körper zu haben.»
«Als ich das erste Mal eine Frau gevögelt habe», sagte der König, «da war ich erst zwölf.»
Der Wasserfleck an der Decke war eine Kanone, mit der man alles kaputtschießen konnte.
«Sie wollte nicht», sagte der König. «Aber ich war stärker als sie.»
In Grund und Boden.
«Wieso erzählst du nicht weiter?», fragte der König.
«Wenn der Junge von der Schule nach Hause kam», sagte die Prinzessin, «musste er immer als Erstes erzählen, was er an diesem Tag alles erlebt hatte. Ohne das Geringste auszulassen. Der Kopf wollte jedes Detail wissen, vom Tonfall einer Stimme bis zur Farbe eines Pullovers. Selbst den wechselnden Belag des Pausenbrots ließ er sich jeden Tag beschreiben und konnte zehnmal nachfragen, wenn ihm die Schilderung des Geschmacks von Räucherschinken oder Streichkäse nicht exakt genug erschien. ‹Ich kann es ja selber nicht erleben›, sagte er und war unendlich neugierig.»
«Ganz schön lästig», sagte der König.
«Sie waren Freunde», sagte die Prinzessin.
«Das meine ich», sagte der König. «Ganz schön lästig.»
«So ging es ein Weilchen», sagte die Prinzessin. «Der Junge erlebte die Dinge, und der Kopf bekam sie erzählt. Aber irgendwann reichten dem die Berichte aus zweiter Hand nicht mehr aus. ‹Ich möchte selber dabei sein›, sagte er. ‹Kannst du mich nicht mitnehmen? Nur einen Tag lang?›
Das ging natürlich nicht. Man kann keinen Kopf mit in die Schule bringen und ihn sich aufs Pult stellen. Oder ihn während der Turnstunde in die Sprossenwand klemmen. Und wie sollte das auf dem Pausenhof gehen? In den Pausen wollte der Kopf unbedingt dabei sein, weil man sich dort, wie ihm der Junge erzählt hatte, die Mädchen ansah. Trotz aller Beschreibungen konnte er sich Mädchen einfach nicht richtig vorstellen.»
«Und wie haben sie es gemacht?», fragte der König.
«Der Junge hörte mit Fußballspielen auf und trat in einen Bowling-Club ein.»
«Bist du besoffen?», fragte der König.
«Nicht mehr als nötig», sagte die Prinzessin.
«Was hat Bowling damit zu tun?»
«Es gab dem Jungen die Ausrede, sich eine Tasche zu besorgen, wie man sie in diesem Sport benützt, um seine persönliche Kugel immer bei sich zu haben. Nur dass er darin keine Kugel mit sich herumtrug. Er hatte zwei kleine Gucklöcher in den Stoff gemacht, und so konnte der Kopf jetzt zum ersten Mal auch die Dinge direkt miterleben, die außerhalb seines Zimmers passierten. In den Schulstunden war sein Platz unter dem Pult, beim Computerspielen lag er neben dem Bildschirm, und er war sogar dabei, als der Junge zum ersten Mal mit einem Mädchen schlief.»
«Hat den das nicht gestört?», fragte der König.
«Dafür war er viel zu dankbar. Er selber hatte nämlich geglaubt, das Mädchen wolle gar nichts von ihm wissen, aber so ein Kopf hat viel Zeit, um zuzuhören und nachzudenken, und hatte deshalb aus ihrem Tonfall
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