Zehnundeine Nacht
von Argumenten noch von Entschuldigungen umstimmen. Er gab noch nicht einmal nach, als der junge Mann zu betteln begann.»
«Betteln?», sagte der König verächtlich. «So eine Pfeife. Ich hätte es aus ihm herausgeprügelt.»
«Wahrscheinlich hättest du das», sagte die Prinzessin. «Aber der junge Mann war für so etwas nicht gemacht. Er ertrug es nur schwer, dass der Kopf nicht mehr mit ihm reden wollte, und als er auf sein ‹Gute Nacht› keine Antwort bekam, konnte er lange Zeit nicht einschlafen. Auch der Kopf, wieder an seinem angestammten Platz auf dem Nachttisch, schloss die Augen nicht, aber das hatte er früher schon nie getan.»
«Ich schlafe auch manchmal schlecht», sagte der König. «Ich weiß», sagte die Prinzessin.
«Aber bei mir kommt es davon, dass ich zu viel Energie habe.»
«So wird es sein», sagte die Prinzessin. «Am nächsten Morgen wollte sich der Kopf nicht in seine Tasche packen und mitnehmen lassen. ‹Ich bin ganz gern mal allein›, sagte er. ‹Wir sehen uns ja am Abend.›
‹Wirst du dich nicht langweilen?›, fragte der junge Mann.
‹Ich werde mir schon etwas ausdenken›, sagte der Kopf.
Den ganzen Tag, während der junge Mann im Büro an seinem Schreibtisch saß, juckte ihn die Narbe am Hals. Es war kein schlimmer Schmerz, aber er irritierte ihn doch so, dass er immer wieder hinfassen musste. Auf dem Nachhausewegkaufte er an einer vietnamesischen Imbissbude eine Portion Fisch mit einer unangenehm riechenden Soße, von der er schon im Voraus wusste, dass sie ihm nicht schmecken würde. Er wollte nur dem Kopf mit der Beschreibung eines ungewohnten Geschmacks eine Freude machen. Aber der hörte ihm kaum zu und meinte bloß, seinetwegen müsse er sich keine Mühe geben.
‹Willst du wissen, was heute im Geschäft passiert ist?›, fragte der junge Mann.
‹Nein, danke›, sagte der Kopf. ‹Es interessiert mich nicht.›»
«Was war denn passiert?»
«Nichts», sagte die Prinzessin. «Er hatte nur Konversation machen wollen.»
«Weichei», sagte der König verächtlich.
«Am nächsten Tag tat ihm die Narbe richtig weh, ein brennender Schmerz wie von einer Schnittwunde. Aber der Spiegel im Waschraum für die Angestellten zeigte nichts Auffälliges. Am Abend war der Kopf immer noch wortkarg und reagierte auf alles, was der junge Mann sagte, nur mit distanzierter Höflichkeit. Am dritten Tag ...»
«Was ist eigentlich aus der Mutter geworden?», unterbrach sie der König. «Ist die unterdessen gestorben?»
«In der Geschichte kommt keine Mutter vor.»
«Du regst dich immer gleich so auf», sagte der König.
«Entschuldige», sagte die Prinzessin. Sie suchte an der Zimmerdecke nach ihrem Wasserfleck, konnte ihn aber nicht finden.
«Schon gut», sagte der König.
«Am dritten Tag war der Schmerz kaum auszuhalten,aber im Spiegel war immer noch nichts zu sehen. Die Narbe war nicht einmal gerötet. ‹Meinst du, ich sollte zum Arzt gehen?›, fragte der junge Mann, als er am Abend nach Hause kam.
‹Wird nicht nötig sein›, antwortete der Kopf. ‹Bis morgen ist alles vorbei.›
Und tatsächlich: Als der junge Mann am nächsten Morgen aufwachte, war der Schmerz verschwunden. Er fühlte sich sogar seltsam leicht. Erst als er aufstehen wollte, merkte er, dass immer noch etwas nicht in Ordnung war. Seine Muskeln wollten ihm einfach nicht gehorchen. Er war wie gelähmt.
‹Daran wirst du dich gewöhnen müssen›, sagte der Kopf.
Die Stimme kam aus einer ungewohnten Richtung. Der junge Mann wollte sich zu ihr drehen, aber es ging nicht.
‹Ich kann mich nicht bewegen›, sagte er erschrocken. ‹Natürlich nicht›, sagte der Kopf.
Und dann kamen zwei Hände, fassten ihn links und rechts an den Schläfen und hoben ihn hoch. Hoben ihn einfach hoch und setzten ihn auf dem Nachttisch ab.
Von dort aus konnte er das Zimmer überblicken. Das Filmplakat an der Wand. Die unordentlich auf einen Stuhl geworfenen Kleider. Das Bett. Und im Bett lag ...»
Die Prinzessin machte eine Pause.
«Was lag im Bett?», fragte der König ungeduldig.
«Er selber», sagte die Prinzessin. «Oder doch zumindest sein Körper. Der kräftige Körper eines jungen Mannes. Mit einer kleinen Narbe an der rechten Seite des Halses.»
«An der linken», sagte der König, der auf solche Details achtete.
«Nein», sagte die Prinzessin, «auf der rechten. Aber das fiel ihm erst später auf. Jetzt erschreckte ihn etwas anderes viel zu sehr. Der Körper hatte einen Kopf, und der Kopf nickte ihm zu
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