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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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und sagte: ‹Es macht Spaß, einen Körper zu haben.›
    «Das war ...?»
    «Ja», sagte die Prinzessin. «Sie hatten die Plätze getauscht. Jetzt saß der junge Mann auf dem Nachttisch fest, und der Kopf räkelte im Bett seinen Körper. Als er dann aufzustehen versuchte, fiel er beinahe hin. So ein Körper ist nicht leicht zu lenken, wenn man es nicht gewohnt ist. Aber der Kopf lernte schnell.»
    «Und der Mann?»
    «Wartete jeden Tag auf dem Nachttisch und hoffte, dass ihm sein Kopf etwas Interessantes zu erzählen haben würde. Und dass er ihn vielleicht einmal mitnähme, in seiner Bowlingtasche.»
    Der Wasserfleck an der Decke war ein Fleck. Nichts anderes.
    «Etwas möchte ich gern wissen», sagte der König. «Was hatte der Kopf wohl erlebt, in der Woche, in der er verschwunden war?»

Die dritte Nacht
    Vor der Brust des Königs hing an einer goldenen Kette ein Kreuz. Die nach außen liegenden Kanten hatte er angeschliffen, und bei Prügeleien wickelte er sich die Kette um die Hand und zerfetzte seinen Gegnern mit dem Kreuz das Gesicht. Sonst legte er es nie ab und behielt es auch an, wenn er im Bett auf die Prinzessin stieg. Sie hatte sich auch heute wieder daran geschnitten, sich aber nicht beschwert, weil sonst der König nur noch fester zugedrückt hätte. Das war so seine Art.
    Endlich wälzte er sich schwitzend auf seine Seite des Bettes zurück. «Jetzt kannst du mir eine Geschichte erzählen.»
    «Es war einmal ... », begann die Prinzessin, aber der König unterbrach sie gleich wieder. «Du blutest ja», sagte er.
    «Ja», sagte die Prinzessin.
    «Egal», sagte der König.
    Draußen fuhr mit heulender Sirene ein Polizeiauto vorbei. Der König hob kurz den Kopf, und ließ ihn dann wieder auf das Kissen zurücksinken. «Erzähl!», sagte er.
    Die Prinzessin betrachtete die Fettwülste an des Königs Bauch und die grauen Haare auf seiner Brust. Das Kreuz lag da wie auf Watte.
    «Es war einmal», begann sie, «in Mailand ein Kaufmann,der hatte in seinem Keller eine eiserne Truhe voller Menschenknochen.»
    «Wird das auch eine lustige Geschichte?», fragte der König misstrauisch.
    «Sehr lustig», sagte die Prinzessin.
    «Knochen ...», sagte der König. «Wusstest du, dass man einem Menschen jeden Knochen im Körper mit der bloßen Hand brechen kann? Man muss ihn nur richtig treffen.»
    «Ich halte das durchaus für möglich», sagte die Prinzessin und erzählte weiter. «Auch von den Knochen, die dieser Kaufmann in seiner Truhe hatte, waren die meisten zerbrochen, einige durch Gewalt, andere einfach wegen ihres Alters. Es waren die Knochen von Heiligen.»
    «Heilige gibt es nicht», sagte der König.
    «Es gibt Menschen, die an sie glauben. Für das Geschäft macht das keinen Unterschied.»
    «Du bist nicht dumm», sagte der König.
    «Der Kaufmann hatte sich auf den Handel mit Reliquien spezialisiert. Wenn irgendwo eine Kirche oder ein Kloster oder einfach eine Stadt eine neue Attraktion brauchte, dann wandte man sich an ihn. Aus den Vorräten in seiner Kiste konnte er, je nach Bestellung, einen ganzen Schädel vom heiligen Archibald liefern. Bei geringerer Finanzkraft wahlweise auch nur eine Hand vom heiligen Balthasar, ein Wadenbein vom heiligen Chrysotomus oder einen Zeigefinger von der heiligen Dorothea.»
    «Lässt sich damit Geld verdienen?», fragte der König interessiert.
    «Ließ», korrigierte die Prinzessin. «Die Geschichte spielt vor ein paar hundert Jahren.»
    «Ach so», sagte der König und klang ein wenig enttäuscht.
    «Es war ein lukratives Geschäft, denn Heilige sind selten, und wer mit einer beeindruckenden Reliquie Kunden anlocken will, muss dafür tief in die Tasche greifen. Den Kaufmann hatte dieses Gewerbe auf jeden Fall reich gemacht, vor allem, weil er das Monopol darin besaß. Oder doch beinahe das Monopol. Es gab natürlich immer noch ein paar Konkurrenten auf dem Markt, aber die hatten in ihren Katalogen kaum mehr anzubieten als eine Haarlocke von der heiligen Eusebia oder einen Zehennagel vom heiligen Franziskus.»
    «Das ist ja ekelhaft», sagte der König. «Wer kauft denn Zehennägel?»
    «Jeder, der dringend ein Wunder braucht.»
    «Zehennägel können Wunder vollbringen?»
    «Solang jemand daran glaubt.»
    Der König lachte sein unangenehmes Lachen, das fast wie ein Husten klang. «Das scheint tatsächlich eine lustige Geschichte zu werden», sagte er.
    «Weil es zu jener Zeit viele gläubige Menschen gab», fuhr die Prinzessin fort, «war der Kaufmann reich

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