Zehnundeine Nacht
waren?»
«Genau das war das Problem. Die Ärzte konnten sich lang nicht entscheiden. Der eine Kopf hatte ein bisschen mehr Haare, dafür waren beim andern die Wimpern länger. Hauchfeine Wimpern.»
Ein Vogel, mit dem man wegfliegen konnte.
«Sie haben es schließlich dem Zufall überlassen», sagte die Prinzessin.
«Warum haben sie nicht die Mutter gefragt?»
«In der Geschichte kommt keine Mutter vor.»
«Schrei mich nicht an», sagte der König.
«Entschuldige», sagte die Prinzessin.
«Schon gut», sagte der König.
«Sie haben eine Einwegspritze auf den Operationstisch gelegt», erzählte sie weiter, «und sie im Kreis gedreht. Als die Spritze zum Stillstand kam, zeigte die Nadel auf den linken Kopf des Neugeborenen, und so wurde der entfernt.»
«War das der mit den Haaren?», fragte der König.
«Nein, der mit den Wimpern.»
«Es war bestimmt eine schwierige Operation», sagte der König.
«Nichts Besonderes», sagte die Prinzessin. «So etwas können sie heutzutage. Den abgetrennten Kopf steckten sie in ein Glas, füllten es mit einer konservierenden Flüssigkeit und gaben das Ganze der Mutter mit nach Hause.»
«Ich denke, in der Geschichte kommt keine Mutter vor?»
«Sie kommt nicht vor», sagte die Prinzessin, «aber esgibt sie. Der kleine Junge erholte sich sehr schnell von der Operation. Nur auf der linken Seite seines Halses blieb eine Narbe zurück. Später, als er älter war, erzählte er seinen Mitschülern, er habe sich dort beim Fußballspielen verletzt.
Das Glas mit dem Kopf stand immer auf seinem Nachttisch. Er gewöhnte sich an, ihm vor dem Einschlafen ‹Gute Nacht› und nach dem Aufwachen ‹Guten Morgen› zu sagen. Er hatte den Eindruck, dass der Kopf lächelte, wenn er ihn begrüßte, und ein trauriges Gesicht machte, wenn er es einmal vergaß.»
«Man kann sich jeden Scheiß einbilden», sagte der König.
«Das stimmt», sagte die Prinzessin. «Sonst wäre es nicht auszuhalten. Noch etwas fiel dem Jungen auf, oder vielleicht, wahrscheinlich hast du recht, bildete er es sich ein: Das Glas schien immer kleiner zu werden. Am Anfang hatte der Kopf reichlich Platz darin gehabt, man hatte das Behältnis drehen können, und der Kopf hatte sich, von der Flüssigkeit angetrieben, langsamer mitgedreht. Aber jetzt klemmte er fest, hatte die eine Backe an die Rundung des Glases gepresst, als ob es auf der andern Seite, draußen, etwas zu belauschen gäbe. Wenn man früher freundschaftlich an das Glas geklopft hatte, dann hatte es ausgesehen, als ob der Kopf höflich oder sogar dankbar zurücklächelte. Jetzt zuckte er jedes Mal zusammen, als ob er der Beinahe-Berührung gern ausgewichen wäre.»
«Und?», fragte der König. «War das Glas tatsächlich kleiner geworden?»
«Nein», sagte die Prinzessin. «Der Kopf war gewachsen.Im gleichen Maß und in der gleichen Geschwindigkeit wie der Kopf des Jungen, auf dessen Nachttisch er stand.»
«Hast du dir die Geschichte selber ausgedacht?», fragte der König.
«Einen Teil davon», sagte die Prinzessin. «Der Kopf war also gewachsen, er wuchs immer weiter, und schließlich sprengte er sein Glas. Es passierte mitten in der Nacht, und der Junge wachte auf, nicht von dem Geräusch, sondern weil sein Leintuch plötzlich feucht war. Die Flüssigkeit, in der der Kopf all die Jahre geschwommen hatte, war klebrig, und ihr Geruch erinnerte ihn an den Chemiesaal der obersten Klasse, in den er sich einmal für eine Mutprobe hineingeschlichen hatte.»
«Und der Kopf?»
«Der lag neben ihm im Bett und sagte immer wieder: ‹Ah, so ist es besser. So ist es viel besser.›
«Ein toter Kopf, der reden kann. Deine Geschichte fängt an, mir zu gefallen.» Je nachdem, was der König am Tag erlebt hatte, gruselte er sich in der Nacht gern ein bisschen.
«Er war nicht tot», sagte die Prinzessin. «Er war lebendig geblieben. Und wurde noch viel lebendiger, jetzt, wo ihm keine chemische Brühe mehr den Mund und die Nase verstopfte. All die Jahre hatte er nicht reden können, und das holte er jetzt nach.»
«Und erzählte wahrscheinlich ganz kluge Dinge.» Der König liebte es, den Fortgang ihrer Geschichten zu erraten, wurde aber ungehalten, wenn er mit seiner Vermutung recht behielt. Er wollte sein gutes Geld nicht für Dinge ausgeben, die er sich auch selber erfinden konnte.
«Keine klugen Dinge», sagte die Prinzessin deshalb.
«Der Kopf war erst sieben Jahre alt, und was hat man in diesem Alter schon Gescheites zu berichten? Aber er war ein
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