Zehnundeine Nacht
Tagen nicht mehr gesehen.»
«Lief der auch mit Erbsen in den Schuhen rum?»
«Nein», sagte die Prinzessin. «Obwohl auch er an den Weltuntergang glaubte. Schließlich hatte es den Kometen gegeben, das Ei mit den Schriftzeichen und das Kalb mit den sechs Beinen. Aber, wie es manchmal vorkommt, er hatte aus derselben Überzeugung einen ganz anderen Schluss gezogen als sein Bruder. Wenn es denn zu Ende seinsollte, so dachte er, dann war es eben zu Ende. Aber vorher wollte er noch gelebt haben. Richtig gelebt. Ohne etwas auszulassen. Es gab genügend Menschen, die derselben Meinung waren, und zusammen zogen sie von Dorf zu Dorf, betranken sich jeden Tag und fraßen sich voll, bis sie kotzten. Auch Frauen waren dabei, die beschliefen sie reihum und manchmal auch gemeinsam. Wenn ihnen danach war, trieben es auch die Männer miteinander. Ob man für eine kleine oder für eine große Sünde in die Hölle kam, dachten sie sich, machte letzten Endes auch keinen Unterschied. Auf das Paradies hatten sie keine Hoffnung. Heilige waren sie nie gewesen und würden es in der kurzen Zeit auch nicht mehr werden.
Auf ihren Zügen übers Land begegneten sie immer mal wieder einer Büßerprozession, wehklagenden Menschen, die schwere Kreuze schleppten und die Köpfe mit Asche bestreut hatten. Wenn sie aufeinandertrafen, sangen die Ketzer höhnische Lieder und prügelten sich mit den Büßern. Man schlug ihnen die Köpfe blutig, aber sie fanden, genau so müsse es sein, genau so.»
«Hoffentlich hatten sie Backpulver dabei», sagte der König und lachte schon wieder nicht. Er musste sehr großen Ärger gehabt haben.
«Der jüngste Sohn blieb zu Hause, bestellte die Felder, melkte die Kühe und füllte die Scheune. Eines Abends, als er müde vom Acker zurückkehrte, hörte er ein seltsames Geräusch. Er dachte zuerst an ein Gespenst; in jener Zeit rechnete man immer mit solchen Dingen. Aber es war ein Mensch. Ein Mann. Er lag auf dem Misthaufen vor dem Hof und schnarchte laut. Zuerst erkannte er ihn nicht. Dannsah er, dass es sein Bruder war, derjenige, der sich mit Völlerei und Unzucht auf die Ewigkeit vorbereitete.»
«Völlerei und Unzucht», sagte der König. «Seit wann redest du so geschwollen?»
«Fressen und ficken», übersetzte die Prinzessin.
«Dann sag das doch, verdammt noch mal.»
«Entschuldigung», sagte die Prinzessin. «Dieser mittlere Bruder war im Suff auf ein fremdes Dach gestiegen und hatte sich beim Herunterfallen ein Bein gebrochen. Seine Kumpane hatten ihn nach Hause geschleppt und auf dem Mist abgeladen. Als er aus seinem Rausch erwachte, verlangte er nach Schnaps, um die Schmerzen zu betäuben. Dass sein Bein kaputt war, fand er nur komisch. Noch komischer erschien ihm der Vorschlag, einen zusätzlichen Anteil am gemeinsamen Hof zu erwerben. ‹Gebt mir nur den Wein aus dem Keller und die Schinken aus dem Kamin›, sagte er, ‹dann verschreibe ich euch alles, was mir gehört.› Und genau so besiegelten sie es mit Handschlag.»
«Im Suff macht man die verrücktesten Sachen», sagte der König. «Ich könnte dir Geschichten erzählen ...»
«Willst du?», fragte die Prinzessin.
«Nein», sagte der König. «Geschichten sind deine Sache.»
«Als sie von dem Wein und dem Schinken hörten», fuhr sie also fort, «kamen seine Freunde mit einem Karren vorbei. Sie luden ihn auf, die Weinfässer und die Schinken dazu, spannten sich selber als Pferde ein und sangen im Wegziehen selber erfundene schweinische Psalmen. Später drückten sie ihm eine Krone aus Dornenzweigen auf den Kopf und erklärten ihn zu ihrem König und Erlöser. Baldglaubte er selber an seine neue Würde, segnete und verfluchte sie, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Wenn sie wieder einem Büßerzug begegneten und sich mit den reuigen Sündern prügelten, feuerte er sie von seinem Thron aus an. So zogen sie von Dorf zu Dorf, und je näher das Ende der Welt rückte, desto eifriger sündigten sie, um nur ja nichts zu versäumen.»
«Wenn ich wüsste, dass die Welt untergeht ...»
«Ja?», fragte die Prinzessin.
«Ich würde mich vorher umbringen.»
«Wirklich?»
«Bestimmt», sagte der König. «Aber man müsste ganz sicher sein.»
«Der eine Bruder sündigte also», erzählte die Prinzessin weiter, «und der andere betete. Er ließ sich sein Drittel auszahlen und verteilte das Geld an die Armen. So hatten sie beide ihren Anspruch auf den elterlichen Hof verkauft, der eine, um ihn zu verfressen und zu versaufen, der andere, um ihn zu
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