Zehnundeine Nacht
Prinzessin.
«Hoffentlich», sagte der König. «Ich lass mir von dir doch nicht meine gute Laune verderben.»
«Eine Weile ging es ihm sehr schlecht», sagte die Prinzessin. «Oft saß er stundenlang irgendwo in der Sonne oder im Regen. Wie man hinterher wieder trocken wurde, das hatte er ja schon als Baby geübt. Wenn zufällig ein Bus vorbeikam,stieg er ein und ließ sich ohne Ziel mitnehmen. Unglücklich sein kann man überall, dachte er.
Er schlief, wo immer es ihn gerade hinverschlagen hatte. Wenn er müde wurde, legte er sich einfach auf den nackten Boden und vergaß immer wieder, dass er sich ja auch ein Bett oder mindestens eine warme Decke hätte hinzaubern können. Trotzdem sah er nie aus wie ein Landstreicher, denn um gewaschen und rasiert zu sein, genügte es, daran zu denken, und seine Kleider waren aus alter Gewohnheit an jedem Morgen frisch gewaschen und gebügelt. Wenn er aufwachte, legte er sich ein Stück Brot in die Hand und kaute dann ohne Appetit auf der faden Masse herum. Er hatte schon wieder vergessen, wie richtiges Brot schmecken muss, und um sein Gedächtnis aufzufrischen, hätte er in eine Bäckerei gehen müssen. Er fürchtete sich aber vor den Erinnerungen.
Einmal, er hätte nicht sagen können, wo es war, saß er wieder am Straßenrand in einem Wartehäuschen und hoffte, dass noch lang kein Bus kommen würde. Ohne es zu merken, so wie andere Leute in der Nase gebohrt oder an ihren Fingernägeln herumgeknipst haben würden, ließ er auf seiner Handfläche eine bunte Kugel erscheinen und wieder verschwinden. Erscheinen und wieder verschwinden. Erscheinen und wieder verschwinden.
Plötzlich sagte eine Stimme: ‹Das ist ein hübscher Trick.›
Er sah auf und erblickte eine junge Frau mit einem Helm und in Lederkluft. Ein Motorrad stand aufgebockt neben dem Wartehäuschen. Er hatte sie gar nicht kommen hören. Sie nahm ein zusammengerolltes Plakat aus der Satteltasche und befestigte es mit Klebestreifen an der Glaswand desHäuschens. Es war das Plakat für einen Zirkus, der gerade in der Gegend gastierte.
‹Ein hübscher Trick›, sagte sie noch einmal. ‹Kannst du auch noch andere?›
‹Ich kann alles zaubern›, sagte er, nicht um aufzuschneiden, sondern weil sie eins von den Gesichtern hatte, denen man nur die Wahrheit sagen kann.
‹Dann zaubere mir doch mal ne Semmel›, sagte die Frau. ‹Ich hab Hunger.›
‹Gern›, sagte er. ‹Sie wird Ihnen aber nicht schmecken. In der letzten Zeit gerät mir das Brot immer schlechter.›
‹Es darf auch ein Brathähnchen sein›, sagte sie lachend. Und weil sie das Gesicht hatte, das sie eben hatte, vergaß er völlig den Vorsatz, seine Fähigkeit immer nur ganz im Geheimen einzusetzen, und erfüllte ihr den Wunsch.
Zuerst lag das duftende, knusprige Hähnchen direkt auf der Wartebank. Als sie zögerte und nicht zugriff, errötete er, sagte: ‹Entschuldigung›, und dann war da auch ein Teller, Besteck und eine weiße Serviette.
Sie sah die überraschende Mahlzeit nur an. Eine ganze Weile lang. Dann zuckte sie die Schultern, setzte sich zu ihm auf die Bank und sagte: ‹Das kann ich aber nicht alles allein aufessen. Hast du noch ein zweites Besteck im Ärmel?›
Sie aßen, ohne sich zu unterhalten. Der Bus kam, aber sie ließen ihn weiterfahren. Sie sah durstig aus, also machte er zwei volle Gläser, und sie stießen miteinander an. Das Hähnchen war ihm gelungen, das sah man ihr an. Wenn sie an einem Knochen herumnagte, kräuselte sich ihre Nase, und sie erinnerte dann ein bisschen an einen Hasen miteiner Mohrrübe. Er fand das unwiderstehlich. Sie hatte viele Sommersprossen. Als sie satt waren, stiegen sie zusammen auf ihr Motorrad und fuhren fort.
‹Du müsstest auch einen Helm haben›, sagte sie, und dann hatte er eben einen Helm auf.
Sie fuhren bis zu dem Zirkus, in dem sie arbeitete, und dort ...»
«Den Rest kann ich mir denken», sagte der König. «Er trat als Zauberer auf, und weil er wirklich zaubern konnte, wurde er bald weltberühmt.»
«Nein», sagte die Prinzessin. «Der Motorradhelm war das Letzte, was er in seinem Leben zauberte. Er benutzte ihn noch viele Jahre. Im Zirkus sammelte er den Kot auf, wenn ein Elefant sich mitten im Auftritt entleert hatte, und nach der Vorstellung, wenn die Zuschauer gegangen waren, wischte er zwischen den Bänken die Erdnussschalen und die kleinen Holzstäbchen von der Zuckerwatte zusammen. Er war sehr glücklich.»
«Und die Frau mit den Sommersprossen?», fragte der
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