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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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lang hin. Lasst uns erst mal die Ernte einbringen, und dann sehen wir weiter.›
    ‹Du bist ein Ketzer›, sagte der Älteste. ‹Schon immer gewesen. Aber wenn der Herr dann die Schafe von den Böckentrennt, wird es dir leidtun.› Und der Mittlere meinte, noch deutlicher könnten Zeichen gar nicht sein.
    Sie gingen nicht mehr aufs Feld hinaus, denn wozu noch die Scheunen füllen, wenn einem bald im Paradies die gebratenen Tauben in den Mund fliegen? Und wenn man nicht ins Paradies eingelassen, sondern in den feurigen Schlund des Satans geschleudert wird, dann nützen einem solche weltlichen Vorräte erst recht nichts. Nein, sagten die beiden, für sie gab es Wichtigeres zu tun als Korn zu schneiden und Äpfel einzusammeln. Dafür hatten sie jetzt keine Zeit mehr. Sie bereiteten sich auf den Weltuntergang vor, jeder auf seine Art.»
    «Die Welt geht nicht unter», sagte der König. «Es trifft immer nur die Dinge, die einem Spaß machen. Ich bin sicher, die Flecken gehen nie mehr raus.» Seine Zigarre brannte endlich. Ihr Rauch stieg langsam in die Höhe und wurde auf dem Weg zur Decke unsichtbar.
    «Der älteste Bruder», erzählte die Prinzessin, «der den Prediger selber gehört und seine blutenden Wunden mit eigenen Augen gesehen hatte, beschloss, Buße zu tun. ‹Wir alle sind Sünder›, hatte der Mönch gesagt, und je länger der Mann nachdachte, desto mehr Sünden fielen ihm ein. Er kleidete sich also in ein Hemd aus dem kratzigsten Filz, den er finden konnte, und schritt jeden Tag einmal den Kreuzweg ab, mit Erbsen in den Schuhen. Wenn dann seine Füße bluteten, kniete er in der Kirche vor dem Altar nieder und sagte alle Gebete auf, an die er sich erinnern konnte. Es waren nicht sehr viele, denn er war kein gelehrter Mann. Dafür wiederholte er sie umso öfter.»
    «Zu was sollte das gut sein?», fragte der König.
    «Vergebung», sagte die Prinzessin. «Gnade. Er erwartete, bald vor dem Jüngsten Gericht zu stehen, und da wollte er nicht zu den Verdammten gehören.»
    «Völlig falsch», sagte der König. «Wenn du vor Gericht einen auf Reue machst, kannst du gleich ein Geständnis unterschreiben. Was du brauchst, ist ein Anwalt, der alle Tricks kennt.»
    «Er dachte wohl, dafür gebe es keine.»
    «Tricks gibt es immer.» Der König sprach aus tiefster Überzeugung. «Aber die Es-tut-mir-so-leid-Nummer funktioniert nicht.»
    «Der Mann tat nicht nur Buße», sagte die Prinzessin. «Er verschenkte auch seinen ganzen Besitz.»
    «Was?», sagte der König und fasste, wie um sie zu beschützen, nach seiner goldenen Armbanduhr.
    «Er wartete nicht darauf, dass die Bettler zu ihm kamen – und es gab viele Bettler in jener Zeit –, sondern er suchte sie auf, lief ihnen regelrecht hinterher und drängte ihnen alles auf, was er hatte. Das Geld aus seinem Beutel und sogar die Ringe von seinen Fingern.»
    «Entmündigen», sagte der König, «sofort entmündigen, so einen.» Er gestikulierte so aufgeregt, dass graue Asche in seinen Brusthaaren landete, ohne dass er es bemerkte. «Wenn einer anfängt, sein Geld an wildfremde Menschen zu verschenken, unterschreibt dir das jeder Psychiater.»
    «Den Beruf gab es damals noch nicht», sagte die Prinzessin. «Genauso wenig wie es Parkhäuser gab. Oder Polizisten.»
    «Keine Polizei?», fragte der König nachdenklich. «Wann, sagst du, war das?»
    «Vor tausend Jahren.»
    «Verdammt lang her», sagte der König nach einer Pause. Er klang ein bisschen enttäuscht.
    «Den Hof, auf dem sie lebten», erzählte die Prinzessin weiter, «hatten die drei Brüder von ihrem Vater ererbt, und er gehörte ihnen gemeinsam. Der Älteste wollte nun aber von Besitz jeder Art nichts mehr wissen und machte deshalb den Vorschlag, seinen Anteil an die beiden andern zu verkaufen. ‹Wenn die Welt untergeht›, sagte er, ‹wird man damit sowieso nichts mehr anfangen können.›»
    «Quatsch», sagte der König. «Immobilien sind das Sicherste überhaupt.»
    «Den Kaufpreis wollte er auch wieder unter die Bedürftigen verteilen, bis zum letzten Pfennig. Der Bußprediger hatte verkündigt, dass im Paradies die Ärmsten die Reichsten sein würden, und die Schwächsten die Stärksten.»
    «Entmündigen», wiederholte der König.
    «Der jüngste Bruder», fuhr die Prinzessin fort, «derjenige, der nicht an das Ende der Welt glaubte, war zu dem Geschäft sofort bereit. Aber um sich den Handschlag geben zu können, mussten sie alle drei beisammen sein, und den Dritten hatten sie schon seit vielen

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