Zeichen im Schnee
Augenblick unantastbar. Sie profitiert vom Witwenbonus.» In den Nachrichten waren Bilder einer tieftrauernden Marsha zu sehen gewesen, wie sie auf dem Flughafen von Anchorage den Sarg ihres Mannes begleitete, umringt von fast hysterischen Anhängern. «Es würde mich nicht wundern, wenn sie demnächst ihre eigene Kandidatur für den Gouverneursposten verkündet.»
Er schenkte Kaffee ein, gab sechs Löffel Zucker in Edies Tasse und reichte sie ihr. Sie stürzte die Brühe hinunter und dachte mal wieder, dass sie Tee viel lieber mochte. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
Sie sagte. «Die schwarze Witwe hat etwas vergessen.»
«Ach ja?»
«Die Geisterwelt.»
Derek lachte abschätzig auf. «Oder die Geisterwelt uns.» Er hielt sich für einen Rationalisten. Trotzdem hatte er Cree und Inuit im Blut, und diese Art Blut, dick und schwer und voll uralter Geschichten, war genau die Sorte Blut, dessen Nähe die Geister schätzten. «Was haben wir denn? Eine Aufzeichnung, die nichts beweist, die Aussagen von ein paar Nutten, von denen nur eine Englisch spricht, ein Mädchen in der Klapse und ein paar abgedrehte Freaks in langen Fummeln.»
«Vielleicht hast du vergessen, wo wir sind, Derek. Nutten, Irre, religiöse Fanatiker, Wald-und-Wiesen-Alaskaner. Dieser Staat gibt jeder Niete und jedem Tölpel ein Zuhause, die sonst nirgendwo eines finden. Die Fledermäuse aus der Hölle, die fliegenden Schweine – die suchen sich alle hier ihr Plätzchen.»
«Genau der richtige Ort für dich», bemerkte Derek trocken.
«Meine Mama hat immer gesagt: Schlimme Dinge passieren, wenn gute Leute nichts tun.»
«Es tut mir echt leid, dass ausgerechnet ich dir das sagen muss, aber deine Mama hatte unrecht. Schlimme Dinge passieren,
ganz egal
, was gute Leute tun. Willst du wissen, warum?
Weil nicht die guten Leute die schlimmen Dinge tun.
» Er sah sie verzweifelt an, setzte sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Einen Moment lang saß er nur so da, den Kopf in die Hände gestützt, und rauchte.
«Weißt du, was wir
eigentlich
tun sollten, du und ich?
Eigentlich
sollten wir einen alten Freund unterstützen, der ziemlich harte Zeiten durchgemacht hat. Und was tun wir stattdessen? Stattdessen reden wir darüber, wie wir ein paar Frauen festnageln können, die wir nicht kennen, und das in einem Land, in dem wir nicht mal leben.»
«Hörst du eigentlich, was du da sagst, Polizist?» Der Gedanke, Derek ins Bett zu kriegen, hatte sich so plötzlich wieder verflüchtigt wie ein in Eiswasser getauchter Ständer. Jetzt war ihr eher danach, ihn k. o. zu schlagen.
Sie wandte sich von ihm ab, schloss die Augen und rief sich das Bild von dem Geisterbären ins Gedächtnis, der sie an jenem, jetzt schon wieder so weit entfernten Morgen durch den Wald geführt hatte. Derek konnte spotten, so viel er wollte, Edie war sich sicher, dass das Tier ihr eine Botschaft gebracht hatte. Aber was wollte der Bär ihr sagen? Was hatte er
versucht
, ihr zu sagen?
«Warum sollten die Altgläubigen sich auf einmal dazu entschließen, ihr Land zu verkaufen?», fragte sie.
Derek holte hörbar Luft. «Weil man sie unter Druck setzt?»
«Wer denn? War Tommy Schofield da nicht schon tot?»
Edie und Derek sahen sich an. Sie dachten beide dasselbe. Byron Hallstrom. Edie trat an den Schrank, nahm ihre Kälteschutzkleidung vom Bügel und begann, sich anzuziehen. Derek packte sie am Arm.
«Versprich mir eins. Wenn wir in vierundzwanzig Stunden nicht bekommen haben, was wir brauchen, überlassen wir die Sache Detective Truro.»
Sie schüttelte seine Hand ab.
«Kann ich versprechen, Polizist, aber du solltest wissen, dass Leute ihre Versprechen ständig brechen.»
Sie fuhren den Glenn Highway hoch und hofften beide, dass es endgültig das letzte Mal war. Edie saß am Steuer. Die Strecke war ihr inzwischen so vertraut, dass ihr die Fahrt vorkam wie die Sequenz aus einem wiederkehrenden Traum. In den zwei Wochen in Alaska hatte sie gelernt, Auto zu fahren, ohne den Motor abzuwürgen oder ständig von der Straße abzukommen. Außerdem hatte sie gelernt, dass ihr Orte ohne Straßen, Autos und Straßengräben lieber waren. Die Sehnsucht, nach Autisaq zurückzukehren, war wie ein nagendes Hungergefühl. Deswegen hieß es in ihrer Sprache Heimwehkrankheit,
Angirraqsiriniq
. Sie sehnte sich nach dem Horizont, nach Eis und Fels und nach den Menschen, die sie dort liebte. Was sie aber noch mehr vermisste, war die Tatsache, dass die Dinge dort einfacher waren. Man
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