Zeichen im Schnee
Hauptstadt Anadyr und von dort aus weiter nach Nome. Es war der russische Traum, sagte sie, die Chance, der Armut ihrer Heimat zu entkommen, etwas Geld zu verdienen, Amerikanerin zu werden. Sie war fünfzehn Jahre alt, aus einem winzigen, verlassenen Nest am Rand der Welt, und wusste es nicht besser. Einer der Männer flog sie nach Nome. Er brachte sie in ein Hotel und sagte ihr, sie würde am nächsten Tag mit einem Flugzeug zu ihrem endgültigen Zielort gebracht. Dieser Zielort entpuppte sich als das Blockhaus.
Drei Winter lang arbeitete sie in dem Blockhaus. Anfangs wurde von ihr erwartet, dass sie den Männern zu Diensten war, die in das Haus kamen. Nur einer rührte sie nie an, der Krüppel. Die Männer sagten nie, wie sie hießen, und im ersten Jahr war ihr Englisch noch so schlecht, dass sie sich nicht mit ihnen unterhalten konnte. Sie hatte ständig Angst. Als sie siebzehn wurde, verloren die Männer das Interesse an ihr. Sie verdiente ihren Unterhalt mit Putzen, und man versprach ihr, sie irgendwann nach Tschukotka zurückzubringen, aber es verging ein ganzes Jahr, ohne dass irgendetwas geschah. Ein Wachmann versprach, ihr zur Flucht zu verhelfen, wenn sie mit ihm schlief, also tat sie es. Er brach sein Versprechen, aber nicht, ohne sie zu schwängern.
«Dann ich hatte noch mehr Angst, weil sie Babys wegnehmen.»
Während jener Zeit freundete sie sich mit der ebenfalls schwangeren Olga an. Sie träumten beide von Flucht, aber sie wussten nicht, wohin sie fliehen sollten.
«Als Vasily auf die Welt kam, war besonderer Junge, kein normaler Junge, und ich dachte, ich darf ihm behalten.» Ihr entfuhr ein seltsames, fast animalisches Geräusch. Olga trat zu ihr und nahm sie in die Arme.
Olga zeigte auf eine Tasche, die unter dem Tisch lag. «Schaut euch Film an», sagte sie. Edie bückte sich unter den Tisch und fand in der Handtasche eine Speicherkarte. Detective Truro zog ein Laptop aus seinem Aktenkoffer und fuhr es hoch.
Auf dem leeren Bildschirm erschien ein grobkörniges Schwarzweißbild des Blockhauses, von Sicherheitskameras beleuchtet. Es war Winter, zumindest kam es Edie so vor. Die Zufahrt war geräumt worden, aber ringsum waren hohe Schneewehen zu sehen. Nicht lange, und eine Frau erschien im Bild. Sie kam aus einer Seitentür und hielt ein Baby auf dem Arm. Lena fing an zu zittern. Die Frau ging so nahe an der Kamera vorbei, dass man sie unschwer erkennen konnte. Es war Marsha Hillingberg. Das Kind, das schlafend in ihrem Arm lag, war halb zugedeckt, und Edie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um Vasily handelte, doch die Gesichtsform ließ auf ein Kind mit Down-Syndrom schließen. Die Frau auf dem Film bog ab und ging am Rand der Schneewehen entlang weiter, und Olga beugte sich vor und hielt den Film an. Lenas Gesicht war schmerzlich verzogen. Sie drückte sich die Faust an den Mund und biss sich auf die Finger. Dann fasste sie sich wieder.
«Das ist sehr dunkler Ort. Wir haben die Kinder gezeichnet. Wir dachten, eines Tages, wir können unsere Kinder wiederfinden. Drei Babys haben wir gezeichnet: Vasily, Tochter von Olga und ein andere Junge.»
«Das Stegner-Baby», sagte Edie.
Lena sah sie fragend an.
Edie beschrieb ihr das Mädchen, das sie im Wald gesehen hatte. Sie erzählte von dem Wort im Schnee auf der Windschutzscheibe. «War sie die Mutter von dem dritten Kind, das ihr tätowiert habt?»
Lena sah zu Boden. Auf ihrem Gesicht lag unendliche Müdigkeit. Edie schien es, als wäre ihr Geist gegen einen anderen ausgetauscht worden.
«Ja. Kann sein, Katerina.»
Zum ersten Mal, seit sie neben Lena saß, wandte Edie den Blick ab. Bob Truro saß immer noch auf seinem Stuhl, den Kopf in den Händen. Daneben stand Derek, kaute an seinen Fingernägeln und starrte die braunen Teppichfliesen an.
«Das Mädchen, Katerina … der Vater von Baby ist Polizist Mackenzie», sagte Lena. «Ich habe ihm in Fernsehen gesehen.»
Bob Truro stöhnte auf.
Olga bat, die Aufzeichnung vorzuspulen, und Truro stand auf und machte sich nützlich. Als Marsha Hillingberg wieder ins Bild kam, stoppte er den Schnellvorlauf. Sie kam den Weg entlang, doch diesmal ohne das Kind.
Lena sagte: «Sie haben mir am Morgen gesagt. Sie haben gesagt, er wäre zu neuer Familie gegangen, aber später habe ich gehört, wie Tommy Schofield und die Hillingberg gestritten haben. Sie hat ihm gesagt, sie hat Baby der Natur zurückgegeben. Hat Vasily ‹Gottes kleiner Fehler› genannt. Als Tommy Schofield
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