Zeichen im Schnee
erkannte die Kleinheit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens an, die es in ihren Augen so lebenswert machte.
Sie nahm die Abzweigung zum Hatcher Pass und dachte an Natalia, die nicht wusste, ob sie den Vater ihres Kindes jemals wiedersehen würde. Obwohl Edie das nie laut aussprechen würde, empfand sie den Glauben des jungen Mädchens als etwas Bewundernswertes – nicht so sehr den Glauben an Gott, sondern den an Galloway selbst. Niemand auf der Welt, abgesehen vielleicht von ihrem geliebten Joe, hätte in Edie jemals ein solches Vertrauen hervorgerufen. Während sie über den ausgefahrenen Waldweg holperten, dachte sie an Lucas und Vasily. Sie spürte in sich tiefe Trauer um diese beiden Jungen, deren Leben beendet war, ehe sie alt und weise werden konnten oder, selbst als Geister, in vollem Umfang die Fülle begreifen konnten, die sie hatten zurücklassen müssen.
An der großen Fichte bog Edie um eine Ecke, und bald darauf standen sie an dem Tor zum Altgläubigen-Besitz. Edie fuhr an den Rand, sie stiegen aus und gingen zu dem Wachmann hinüber, der in einem dicken, altmodischen Mantel am Tor stand, auf dem Kopf eine Fellmütze.
Sie sagte: «Wir möchten Natalia oder Anatol Medwedew sprechen.»
Der Wachmann nickte, zog ein Funkgerät aus der Manteltasche und sagte etwas auf Russisch.
«Er kommt, ihr wartet.»
Sie blieben auf ihrer Seite des Tores stehen und versuchten stampfend, die Kälte aus den Füßen zu vertreiben. Weder sie noch der Wachmann auf der anderen Seite sagten ein Wort. Nach einer gefühlten Ewigkeit war ein Licht zu sehen, und Medwedew kam den Weg entlanggelaufen.
«Edie Kiglatuk», sagte er. Sie machte ihn mit Derek Palliser bekannt. Der alte Mann musterte ihn argwöhnisch. «Warum sind Sie hier?»
«Wir wissen, dass Peter Galloway noch am Leben ist.» Sie fixierte ihn, ließ nicht zu, dass er wegsah. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, dann runzelte er die Stirn und riss den Kopf herum, als wolle er sichergehen, dass niemand sie gehört hatte. Es war ihm nicht neu. Was ihn so verdattert hatte, war die Tatsache, dass Edie es wusste.
«Wie soll ich Ihnen vertrauen, Edie Kiglatuk?»
Sie drehte sich um und blinzelte ihn durch den Lichtstrahl hindurch an. «Im Augenblick bin ich die einzige Außenstehende, der Sie vertrauen können.»
Er schien zu überlegen. «Was ist mit dem Mann?»
«Mein Name ist Palliser. Ich bin Polizeibeamter der Eingeborenenpolizei auf Ellesmere Island», sagte Derek auf Russisch. Medwedew erstarrte, doch als Derek hinzufügte, dass er nicht offiziell hier war, sondern als Edies Freund, schien der Altgläubige sich zu entspannen.
«Wir fahren mit Ihrem Auto zum Haus zurück. Dann können Sie sich aufwärmen.»
Er setzte sich auf den Beifahrersitz. Edie übernahm das Steuer. Derek kletterte auf die Rückbank. Sie fuhren zu dem Haus am anderen Ende des Grundstücks, aber anstatt dort zu parken, wies Medwedew Edie an, auf einen schmalen Fahrweg abzubiegen, der sich durch die Bäume wand. «Da lang.» Sie lenkte um die Kurve und tat wie geheißen. Der Wagen schaukelte durch tiefe Fahrrinnen, die etwa einen halben Kilometer weit in den Wald hineinführten, bis hin zu einer kleinen Lichtung mit einer Hütte.
Sie stiegen aus, und Medwedew ging auf das kleine Häuschen zu. Derek legte die Hand an seine Pistole und warf Edie einen warnenden Blick zu, den sie mit einem Nicken quittierte. Der Altgläubige hielt ihnen die Tür auf, und sie betraten den einzigen Raum der Hütte. Das Fenster war mit dicken Vorhängen verkleidet. Medwedew zog ein Feuerzeug aus der Tasche, zündete eine Öllampe an und zog die Vorhänge zurück. Dann zerrte er einen großen geknüpften Teppich zurück. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein, durch deren Ritzen schwacher Lichtschein fiel. Er klopfte zweimal gegen die Dielen und zog die Luke auf. Natalias Gesicht erschien, und als sie Edie über sich entdeckte, erstrahlte ein breites Lächeln. Sie hielt sich an den Stufen fest, kletterte nach oben und hievte sich aus dem Loch im Boden. Bei Dereks Anblick erstarb das Lächeln, und sie sah ängstlich zu der Luke hin. Medwedew sagte etwas auf Russisch zu ihr, und sie beruhigte sich. Sie beugte sich über die Luke und sprach in das Loch hinunter. Ein Paar Hände tauchte auf, dann zwei kräftige Arme, und dann kam Peter Galloway aus dem Loch geklettert.
Er streckte Edie die Hand entgegen, doch sie ignorierte die Geste, und er ließ die Hand wieder sinken.
«Edie Kiglatuk. Ich habe
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