Zeichen im Schnee
dann schulterzuckend ab.
«Sie verurteilen uns, aber Sie haben nie so gelitten wie wir.»
Edie vergrub den Kopf in den Händen. Wir und die. Die und wir. Wie oft hatte sie das schon gehört, wieder und wieder, als wäre es eine unvermeidliche, unüberwindbare Tatsache. Normalerweise fing es immer mit einem winzigen, unauffälligen Unterschied an. Für die Altgläubigen war es das Beharren auf dem zweiten Holzbalken an einem Kreuz gewesen, ein extra ausgeführter Kniefall vor mehr als vierhundert Jahren. Winzige Unterschiede zwischen Gruppen von Menschen, die im Grunde ihres Wesens doch gleich waren.
«Bitte!» Natalia hob die Hand. Sie warf Edie den Blick zu, den Frauen sich zuwerfen, wenn sie sich darüber einig sind, dass Männer sich lächerlich benehmen.
Die Männer beruhigten sich. Natalia schenkte Tee nach.
«Können Sie bitte eine Sache klarstellen?», fragte Derek. «Sie haben Schofield begraben?»
Medwedew schüttelte den Kopf. «Wir haben Peter ein Grab geschaufelt, aber den Leichnam verbrannt. Wir haben einen Brennofen. Er wird sehr heiß. Das hat uns nichts bedeutet, Schofield ist einer von der Außenwelt.»
«Aber natürlich bedeutet das etwas!», sagte Edie. «Wenn man einen Leichnam verbrennt, kann man ihn nicht mehr ausgraben.»
«Oder die Wahrheit herausfinden», fügte Derek hinzu.
Medwedew stützte die Hände auf die Knie. «Gott ist die ultimative Wahrheit», sagte er schlicht.
«Und wie wär’s, wenn wir uns inzwischen auf die mittelfristige Wahrheit einigen?», schoss Derek zurück.
Medwedew quittierte die Frage mit einem kaum merklichen Lächeln. «Ich habe Ihnen alles gesagt.»
Edie schüttelte den Kopf. «Sie schulden uns – mir – mehr als das. Sie haben Hallstrom so lange widerstanden. Wieso haben Sie ausgerechnet jetzt nachgegeben?»
Niemand antwortete. Auf dem Stuhl gegenüber biss sich Natalia auf die Lippe. Sie sah zu Boden, dann sah sie auf und schaute Edie an. Schließlich seufzte sie und begann, an ihren Vater gewandt, sehr leise zu sprechen.
«Für uns ist es vorbei, aber für die Eltern von den toten Babys wird es nie vorbei sein.»
«Und deshalb müssen Sie die Geschichte zu Ende erzählen», ergänzte Edie.
Natalias Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluckte schwer und nickte. «An dem Tag, als Schofields Leiche gefunden wurde, erhielt mein Vater einen Anruf von Marsha Hillingberg. Sie sagte, sie wüsste, dass Peter Galloway noch am Leben ist, und wenn mein Vater das Land nicht an Tryggve verkaufe, würde sie ihm jeden einzelnen Polizisten aus dem ganzen Land auf den Hals hetzen. Da haben wir verstanden, dass Gott uns nicht länger an diesem Ort haben will. Also haben wir unterschrieben.»
Edie und Derek sahen sich an. Es überraschte Edie nicht, dass Schofield die ganze Zeit lang Hallstroms Marionette gewesen war. Sie hatte seine fast teenagerhafte Bewunderung für den Norweger mit eigenen Augen gesehen. Doch als Marsha Hillingberg sich in die Sache einmischte, war Schofield dem Untergang geweiht, und das musste er gewusst haben. Wenn die alten Narben aus Jugendtagen da noch nicht wieder aufgebrochen waren, hatte spätestens Hillingbergs eiskalte Beseitigung von Vasily Chuchin dafür gesorgt, dass alles wieder hochkam. Edie konnte nur ahnen, wie sehr Schofield Marsha Hillingberg gehasst haben musste, und wie machtlos er gegen sie gewesen war. Sie waren so eng miteinander verknüpft, dass er unweigerlich mit untergegangen wäre, wenn er sie ans Messer geliefert hätte. Hillingberg hatte ihn so sehr in die Enge getrieben, dass er nicht mehr Herr seines Lebens war. Edie hätte sich nicht gewundert, wenn er tatsächlich Selbstmord begangen hätte. Aber wenn Edie eines wusste, dann, dass Spuren im Schnee nicht logen.
«So», sagte Natalia. «Da haben Sie die Geschichte.»
Edie stand auf und sagte zu Derek: «Wir sind hier fertig.» An der Tür drehte sie sich noch einmal um und wünschte Natalia viel Glück.
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42
Sie holten Edies Sachen aus dem Apartment und machten einen Umweg über das
Bärenmotel
. Draußen auf dem Gang vor dem Zimmer von Olga und Lena stand ein Mann mit einem dicken, blauen Parka. Derek bedeutete Edie zu warten und ging vor, die Hand an der Pistole. Doch als der Mann sie sah, winkte er zu ihnen hinunter und rief: «Alles okay, ich gehöre zu Bob.»
Der Mann hieß Tom Brokovich und war ein alter Freund von Truro. Sie hatten sich in Anchorage kennengelernt, im ABI , dem Landeskriminalamt Alaskas. Er schuldete
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