Zeichen im Schnee
ihre Vorfahren anderswo begraben waren, hatten sie den Umzug nie bereut.
«Otis arbeitet beim Bau und in der Forstwirtschaft, wenn es Arbeit gibt. Wir jagen und fischen.»
«Ist TaniaLee Ihr einziges Kind?»
Falsche Frage.
Otis’ Gesicht nahm einen unversöhnlichen Ausdruck an. «Wir müssen jetzt wieder an die Arbeit.»
Edie stand auf. Als sie den Reißverschluss ihres Parkas zuzog, entdeckte sie auf einem Konsolentisch gleich neben der Tür mehrere Familienfotos. Besonders ein Bild von TaniaLee mit ihrem Sohn stach ihr ins Auge. Sie nahm es in die Hand. Mutter und Sohn waren irgendwo im Freien. Es lag sehr viel Schnee, und an den Schatten erkannte Edie, dass die Aufnahme gegen Mittag in vollem Sonnenlicht gemacht worden sein musste. TaniaLee kniff die Augen zusammen, ihre Pupillen waren klein wie Stecknadelköpfe. Sie hatte einen verträumten Blick, als sei sie mit den Gedanken ganz woanders.
«Das war voriges Jahr an Thanksgiving», sagte Annalisa sichtlich gequält. Und nach einer Pause fügte sie plötzlich hinzu: «Morgen um zehn ist Lucas’ Beerdigung in der orthodoxen Kirche in Eagle River. Anschließend gibt es im Vestibül ein Beisammensein. Sie können gerne kommen.»
Edie lächelte und betrachtete noch einmal das Foto. Lucas Littlefish war darauf ungefähr sechs Wochen alt, höchstens zwei Monate. Aber jetzt war es März, und das Bild war an Thanksgiving aufgenommen worden, was nur bedeuten konnte, dass Lucas Littlefish im November gestorben sein musste, spätestens jedoch Anfang Dezember. Das bestätigte, was sie schon vermutet hatte, nämlich dass Lucas Littlefish zwischen seinem Tod und der Entdeckung seiner Leiche mindestens drei Monate gefroren irgendwo außerhalb der Reichweite von Tieren gelegen haben musste. Zwischengelagert womöglich. Das würde den tiefgefrorenen Zustand der Leiche und das Eiskristallmuster auf der Haut erklären. Aber warum? Und warum hatte niemand seinen Tod gemeldet?
Sie stellte das Foto auf den Tisch zurück, aber weil ihre Hand dabei zitterte, stieß sie das Bild dahinter um. Als sie es aufrichtete, sah sie zu ihrem Schrecken, dass es Otis zeigte, wie er einem Mann die Hand gab, der Tommy Schofield auffallend ähnlich sah.
«Oh, Mr. Schofield», sagte sie, um einen beiläufigen Ton bemüht. «Er ist ein großes Tier hier in der Gegend, nicht?»
Otis nickte. Er nahm die Fotografie und drehte sie zur Wand. «Er hat oben ein Blockhaus, nicht weit von hier. Manchmal mache ich Reparaturarbeiten für ihn.»
Es war offensichtlich – er wollte unbedingt, dass sie jetzt ging.
***
Sie fuhr wieder zu Tommy Schofields Bürogebäude auf der Landzunge. Schofields Assistentin hatte ihre Pause beendet, saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm – eine flotte Frau Anfang zwanzig, etwas übertrieben gepflegt. Sie stellte sich als Sharon Steadman vor und erklärte, der Bauunternehmer sei zum Flugplatz gegangen. Er müsse oft ganz kurzfristig in die Hauptstadt – in letzter Minute anberaumte Treffen mit Planern und Geldgebern –, und es sei am einfachsten, wenn er selbst flog. Er besitze eine Piper Super Cup, die er für mehrtägige Angelausflüge benutzte, erklärte Sharon, aber um nach Juneau zu fliegen, nehme er meistens seine Cessna 180 .
Sie hörten eine kleinmotorige Maschine über sich.
«Meine Güte, ich glaube, das ist er.» Sie lächelte nachsichtig. «Mr. Schofield
liebt
sie einfach, seine Maschinen.»
Sie warteten, bis der Lärm sich entfernte.
Sharon sagte: «Manchmal sag ich zu ihm, eines Tages, Mr. Schofield, fliegen Sie auf und davon und kommen nie wieder, aber dann sagt er immer, wie könnte ich Sie verlassen, Sharon?» Sie wedelte kichernd mit einer Hand. «Meine Güte, dauernd macht er solche Scherze.»
Edie schaute sich um, und ihr wurde klar, dass aus Schofield oder seinem Büro heute nichts mehr herauszubekommen war. Sie sah auf die Uhr und beschloss, dass sie ebenso gut nach Anchorage zurückfahren konnte.
«Kann ich mal Ihre Toilette benutzen?»
«Aber gerne! Gleich da drüben», sagte die Assistentin und fuchtelte mit den Armen.
Edie trat auf den Flur. Die Toilettentür befand sich direkt vor ihr. Gegenüber standen ein Fotokopierer und eine kleine Gefriertruhe, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war.
Als sie zurückkam, telefonierte Sharon. Die junge Frau bedeutete ihr zu warten, bis sie das Gespräch beendet hatte.
«Haben Sie alles, war es das?»
«Klar», sagte Edie.
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13
Chuck schickte April
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