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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie McGrath
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aus dem Kofferraum und liefen, ohne den Motor abzustellen, dorthin, wo das Mädchen gewesen war. Edies Herz pochte, es war der alte Jagdkitzel. Als sie die Stelle erreichte, an der das Mädchen gestanden hatte, richtete sie die Taschenlampe auf die Fußabdrücke und folgte ihnen durch die Bäume tiefer in den Wald hinein. Die Schneedecke war hier viel dünner, die Spur schwieriger zu erkennen. Zudem war es stockfinster, nur gelegentlich sickerte ein Mondstrahl durch, und wegen der unmittelbaren Nähe der Bäume fühlte Edie sich unangenehm eingeengt. Die Luft roch nach Elektrizität und Fichtenrinde, und weiter entfernt witterte Edie den Geruch von menschlicher Angst. Hinter sich hörte sie das schwache Surren des Automotors, und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass es dumm gewesen war, den Motor laufen zu lassen.
    Sie kamen zu einer kleinen Lichtung, auf der das Mädchen ein Gewirr von Abdrücken hinterlassen hatte; einige davon schienen strahlenförmig in den Wald zu verlaufen. Die Absicht des Mädchens war klar: Sie wollte Zeit gewinnen. Es würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als jeder einzelnen Spur zu folgen, bis sie die fanden, die von der Lichtung fortführte. Was mehrere Minuten in Anspruch nähme, und sie wussten, bis dahin würde das Mädchen sicher zu weit weg sein. Es war sinnlos, ins Schwitzen zu kommen. Sie verlangsamten ihr Tempo, gingen jetzt nur noch flott, immer den Spuren des Mädchens folgend, die eine Kehrtwende machten und wieder dem Weg und dem Wagen zustrebten. Am Waldrand angelangt, suchten sie mit den Augen den Weg ab und sahen sich ängstlich an. Der Wagen stand ungefähr hundert Meter weiter oben. Edie leuchtete mit der Taschenlampe den Boden ab. Zu dem Wagen führte nur eine einzige Spur. Das Mädchen war jetzt gerannt, und zwar schnell. Sie folgten den Fußabdrücken und spurteten zum Auto. Von hier verschwand die Spur wieder im Wald. Von dem Mädchen selbst war nichts zu sehen.
    Edie ließ sich nach vorn sacken und stützte, außer Atem, einen Moment die Hände auf die Oberschenkel. Neben ihr richtete Derek den Strahl der Taschenlampe auf die dunklen Bäume. Einen Augenblick lang meinte sie, ein leises Rascheln aus dem Wald zu hören, doch das musste nicht von dem Mädchen kommen; es hätte ebenso gut ein Tier sein können oder Schnee, der von den Fichtenzweigen fiel. Es hätte sogar ihr eigenes Blut sein können, das ihr durch die Adern schoss. Sie riss die Wagentür auf, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und versuchte, sich zu beruhigen.
    «Edie, sieh mal.» Derek zeigte auf die Windschutzscheibe. Mit einem Mal war klar, weshalb das Mädchen die Kehrtwende zum Auto gemacht hatte. Edie lehnte sich zurück und sah sich das genau an. Das Mädchen hatte mit der Faust ein Muster auf die Scheibe gemalt; hier und da konnte Edie noch die Abdrücke von den Fingerknöcheln erkennen. Linien und Schwünge liefen zu einem komplizierten labyrinthartigen Gebilde zusammen. Einen Augenblick saß Edie nur da, mit aufgerissenen Augen, und kämpfte gegen den unerklärlichen Drang an, zu schluchzen. Was immer hier vor sich ging – jetzt fühlte sie sich vollkommen darin gefangen, verwickelt in eine Reihe von Geschehnissen, deren düstere Zusammenhänge sich ihr noch nicht erschlossen.
    «Was ist das?»
    Derek zuckte die Achseln, er folgte den Linien mit den Augen, sein Gesicht drückte Verwirrung aus. Er kramte einen kleinen Spiralblock und einen Bleistift aus seiner Tasche und zeichnete das Muster ab. Auf Papier blieb es so rätselhaft wie zuvor.
    «Nein», sagte Edie. «Das ist es nicht genau.» Sie stieg aus und ging auf die Vorderseite des Autos. Dort schloss sie die Augen und beobachtete, wie auf ihrer Netzhaut Muster dunkelrot zerflossen. Dann stieg sie wieder ein, nahm Derek den Block aus der Hand und nahm an seiner Skizze ein paar Korrekturen vor.
    «Zeig her», sagte er.
    Sie hielt ihm den Block hin.
    «шаҳта. Das ist Russisch.» Sie hatte vergessen, dass er mal eine russische Freundin hatte und ein bisschen Russisch sprach.
    «Was heißt das?»
    «Es heißt ‹meins›.»

[zur Inhaltsübersicht]
    15
    Das Auto wollte am folgenden Morgen nicht gleich anspringen, deshalb verzögerte sich Edies und Dereks Abfahrt aus Anchorage. Sie hatten gehofft, in Eagle River zu sein, bevor die anderen Gäste eintrafen, um sich noch umschauen zu können, aber als sie zum Friedhof kamen, hatten sich im kalten Morgensonnenschein am Eingang der orthodoxen Zwiebelturmkirche schon etliche von

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