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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie McGrath
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ihnen bekannt war. Aber warum waren ihre Gesichter dann so verschlossen? Es war, als beobachteten sie das Geschehen aus unendlich weiter Ferne.
    Bürgermeister Hillingberg unterhielt sich ein paar Minuten mit Annalisa und dem Priester, während seine Frau mit Otis sprach. Man gab sich die Hand, und die Hillingbergs schritten langsam und würdevoll über den Friedhof zu ihrem Auto, ohne stehen zu bleiben und mit den wartenden Journalisten zu sprechen. Kurze Zeit später folgten ihnen die Littlefishs.
    Während die letzten Gäste nach und nach den Friedhof verließen und zu dem nahegelegenen Saal gingen, wo der Leichenschmaus abgehalten werden sollte, schlich Edie wieder in die Kirche, setzte sich in die letzte Reihe und betrachtete das große Kreuz hinter dem Altar. Die Jägerin in ihr war auf der Lauer. Der Priester war damit beschäftigt, ein Tuch über den Altar zu breiten. Er war ein dünner Mann um die fünfzig mit einer Haut so weiß, dass es schwer war, sie sich von Blut durchströmt vorzustellen.
    Der Priester blickte auf, grüßte Edie mit einem Nicken und setzte sein Tun fort.
    «Ich war es, die die Babyleiche gefunden hat», sagte sie.
    Er war einen Augenblick wie erstarrt, seine Hände verharrten in der Luft. Dann fasste er sich, führte die Arbeit mit dem Tuch zu Ende und kam zu ihr.
    «Man hat einem Altgläubigen das Verbrechen zur Last gelegt», sagte sie. «Wissen Sie das?»
    Der Priester nickte.
    Sie wies auf das Kruzifix über dem Altar. Das gleiche Kreuz hatte man auf den Leichnam von Lucas Littlefish geschmiert.
    «Ist das typisch für die orthodoxe Kirche?»
    «Ja», sagte er. «Wir benutzen das patriarchalische Kreuz. In unserer Tradition symbolisiert der kurze Querbalken über dem langen horizontalen Kreuzbalken das Monogramm, das man über Jesus angebracht hat, als er am Kreuz hing, und das ‹König der Juden› bedeutet.»
    Jetzt erst nahm er ihre ethnische Abstammung wahr. «Sind Sie eine Inupiaq?»
    «Nein, ich komme aus der Ostarktis.»
    «Da sind Sie weit fort von der Heimat.»
    «Sehr weit fort», sagte sie. Und in diesem Moment spürte sie es auch. «Was ich gern wüsste: Haben die Altgläubigen dasselbe Kreuz?» Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass ihn die Frage neugierig machte und er gerne gefragt hätte, warum sie das wissen wollte. Aus irgendeinem Grund tat er es nicht.
    «Den kurzen Querbalken?», sagte er. «Nein. Das war einer der Gründe, warum sie sich von der wahren Orthodoxie abgespalten haben; es spielten auch noch andere Dinge eine Rolle, die mit Priestern zu tun hatten und mit dem Kreuzzeichen. Sie nennen es
Raskol
. Das bedeutet Spaltung.» Er hustete leise.
    «Es muss schwer für sie gewesen sein, sich ausgestoßen zu fühlen.» Auch sie wusste, wie es sich anfühlte, eine Außenseiterin im eigenen Land zu sein.
    «Sie haben sich entschieden fortzugehen», erwiderte der Priester kalt.
    Es entstand eine Pause. Edie merkte, dass er noch mehr sagen wollte, sich aber nicht traute.
    Sie sah ihm direkt in die Augen. «Es gibt Gerüchte, dass die Finstergläubigen sich den Jungen geholt haben.»
    Das Gesicht des Priesters nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, sein Blick huschte von einer Seite der Kirche zur anderen, als wollte er sich vergewissern, dass niemand mithörte.
    «Bitte», sagte Edie. «Ich muss es wissen.»
    Der Priester sah sie an und sagte dann leise: «Folgen Sie mir hinaus.»
    Sie traten ins Licht nach draußen, wo ihr Atem zu federartigen Gebilden kondensierte.
    «Die Leute sagen, sie sind von den Altgläubigen gekommen. Sie sagen, dass es so kommen musste, dass das
Raskol
-Datum ein Beweis dafür ist.»
    «Wann haben sich die Altgläubigen von der Orthodoxie abgespalten?»
    Er blinzelte, als schmerze es ihn, es auszusprechen. « 1666 .» Er beugte sich zu ihr vor und sagte ganz leise: «Verstehen Sie, was das bedeutet?»
    Sie nickte.
    Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sah Edie so eindringlich an, dass es fast weh tat. «Seien Sie vorsichtig», sagte er.

[zur Inhaltsübersicht]
    16
    Chuck Hillingberg und Andy Foulsham saßen an dem Tisch, den der Geschäftsführer des Skipper Seafood Shack immer für den Bürgermeister reserviert hielt, falls dieser, was häufig geschah, zur Mittagszeit hereinkam. Von hier aus sah man über die Cook-Inlet-Bucht auf die Stadt. Marsha war nach dem Begräbnis zu einem lange geplanten Mittagessen mit den Pionierfrauen gegangen und hatte es Chuck und Andy überlassen, über die Schadensbegrenzung zu reden, die

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