Zeichen im Schnee
Hand, mit der Bildseite nach unten. «Bringen wir es einfach hinter uns?»
Sie nickte, von einer unbestimmten Scham erfasst, und er gab ihr das Foto. Ihr Gesicht war ganz heiß.
«Sobald Sie bereit sind.»
Sie atmete durch, drehte das Foto mit der Vorderseite nach oben und ließ den Blick über das Bild gleiten, um dessen gewaltige Wirkung abzumildern und es in den kommenden Jahren nicht immer wieder vor sich zu sehen. Truro beobachtete sie eindringlich.
«Hatten Sie mir Tee angeboten?»
Er blinzelte, nickte. «Natürlich.» Er blickte sich nach seiner Assistentin um, und als er sie nicht sah, stand er auf, um den Tee selbst zu holen.
Edie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. In dem Moment, als sie ihn nicht mehr sah, zog sie die Mappe zu sich heran und zwang sich, genau hinzusehen. Unter den Fotografien waren Bilder von einem bunt bemalten Geisterhaus, ganz ähnlich dem, wo sie Lucas Littlefishs Leiche gefunden hatte. Es gab Bilder von der Stirn des Babys, die unter der Umhüllung eben sichtbar war, Bilder von der Umhüllung selbst und schließlich vom Körper des Babys – ein Anblick, so zart und entsetzlich, dass Edie ein paar Sekunden um Atem ringen musste. Das Baby war vollkommen, das noch gefrorene mollige Körperchen lag nackt auf einem Obduktionstisch – sie nahm jedenfalls an, dass es einer war –, Finger und Zehen im Tode gekrümmt. Edies Jagderfahrung sagte ihr, dass der Kleine zwischen zwei und zwölf Stunden tot gewesen sein musste, als er gefroren war, denn es sah aus, als wäre er in Leichenstarre. Länge und Dicke der Eiskristalle ließen vermuten, dass Jonny Doe bereits Wochen, bevor man ihn im Wald abgelegt hatte, eingefroren und gelagert worden war, genau wie Lucas Littlefish.
Edie blätterte die Fotos durch, bis sie auf eine Reihe Nahaufnahmen stieß. Das Gesicht des Babys kam ihr bekannt vor. Ihr Blick wanderte über das winzige Kinn, die Stirn, doch es waren die Augen, die es ihr verrieten: Sie hatte solche Augen schon bei dem Baby ihrer Cousine Tuviq gesehen – die perfekte Mandelform, die Lidfalten. Als sie das Bild etwas von sich weghielt, erkannte sie das Mondgesicht.
Immer die Tür im Blick behaltend, durch die Detective Truro hinausgegangen war, sah sie die restlichen Nahaufnahmen durch. Sie verweilte bei einer Seitenansicht vom Kopf des Babys. Unterhalb des Haaransatzes, gleich über dem Ohr, hatte die Haut einen verwischten Fleck. Vielleicht hatte er nichts zu bedeuten, doch ihr Instinkt sagte etwas anderes. Auch das letzte Foto zeigte die linke Seite im Profil, und auf diesem war der verwischte Fleck deutlicher zu sehen, größer. Hätte man es nicht schon einmal gesehen, hätte man das Gebilde für nichts Schlimmeres gehalten als ein Muttermal oder vielleicht eine Narbe. Für den, der es schon einmal gesehen hatte, war es absolut unverkennbar – шаҳта. Meins.
Truro kam mit Tee zurück, und sie sprachen über die Umhüllung. Soweit Edie sie auf den Fotos erkennen konnte, war es genau dieselbe, die sie bei Lucas Littlefish gesehen hatte. Sie hütete sich, die Tätowierung zu erwähnen. Truros Reaktion bei Lucas’ Begräbnis hatte sie in ihrer Überzeugung bestärkt, dass er in keiner Weise von der Geschichte abweichen würde, die er sich schon zurechtgelegt hatte. Vielleicht wusste er von der Tätowierung. Vielleicht hielt er sie für ein satanistisches Mal.
Und vielleicht hatte er recht.
***
Edie verließ das APD -Gebäude, so schnell sie konnte, und schob sich durch die inzwischen angewachsene Menge der Demonstranten. Als sie ins Apartment zurückkehrte, machte Derek gerade eine Pizza heiß.
«Wie kannst du nur so ein Zeug essen?» Alles, was nicht Fleisch oder Fisch war, war reine Kauverschwendung.
Sie berichtete ihm von der Tätowierung am Kopf des toten Jungen.
«Du denkst, das Mädchen im Wald könnte die Mutter sein?»
«Denke ich, ja.»
Derek aß das letzte Stück Pizza und leckte sich die Finger ab.
«Weshalb macht jemand so was, Babys tätowieren?»
«Ich bin nicht besonders helle, wie du weißt, Polizist, aber ich würde vermuten, um sie zu kennzeichnen – entweder als Individuen oder als Angehörige einer Gruppe, einer Art Stamm.»
Sie ging zum Kessel, schaute, wie viel Wasser drin war und setzte ihn auf.
«Für wen wäre es denn notwendig, ein Baby so zu kennzeichnen?»
«Ja, für wen wohl, was denkst du? Für jemanden, der wiederkommen und es für sich beanspruchen will.»
Derek dachte kurz darüber nach. «Aber warum das Zeichen in den
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