Zeichen im Schnee
kleinen Hang hinauf und gelangte auf einen schmalen, tief gefurchten Weg, der zwischen den Bäumen von Südwesten nach Nordosten verlief. Könnte ein Holzfällerpfad sein, dachte sie, oder auch eine Feuerschneise. Da sie mit diesen Dingen keinerlei Erfahrung hatte, ließ es sich unmöglich sagen. Edie vermutete, dass sich dieser Pfad am Südwestende mit dem Weg vereinte, auf dem sie den Mietwagen abgestellt hatte, was den Schluss nahelegte, dass das, was sie suchte, im Nordosten lag. Diese Richtung schlug sie nun ein, froh, wenigstens ein bisschen Abstand zwischen sich und die bedrückende Finsternis der umstehenden Bäume zu bringen.
Dieser Weg wurde viel genutzt, er war gestreut und erst kürzlich befahren worden – die Reifenrillen waren nicht mal vollständig überfroren. Edie blieb einen Moment stehen, lauschte auf Motorengeräusche, hörte jedoch nur das Rascheln des Windes und das Flattern von Vögeln in den Bäumen. Der Himmel hatte sich bezogen, und es begann zu graupeln. Edie zog sich die Kapuze ihres Parkas über und stapfte weiter; Holzkopf neben ihr schnupperte eifrig in die Luft. Nach ungefähr einem Kilometer kam sie an ein großes, mit Stacheldraht gespicktes Tor an der Grenze eines Anwesens. Die Gegend ringsum wurde von zwei oberhalb des Drahtes montierten Kameras überwacht; zudem war eine große, teuer aussehende Videosprechanlage installiert.
Instinktiv mied Edie die Kameras und duckte sich abseits des Weges zwischen die Bäume. Von da ging sie durch Erlengestrüpp dorthin, wo der Zaun des Anwesens den Wald durchschnitt. Auch hier war der Maschendrahtzaun vier, fünf Meter hoch und mit Stacheldraht gespickt, aber es gab keine Kameras. Wo Edie herkam, waren ausschließlich Luftwaffenstützpunkte und Militäranlagen eingezäunt. Das hier aber war nichts von beidem. Keine Uniformen, keine amtlichen Verlautbarungen. Dieses Anwesen war Privatbesitz, und die Eigentümer waren nicht darauf erpicht, jemandem Einblick zu gewähren in das, was jenseits des Zaunes vorging.
Von ihrem Aussichtspunkt konnte Edie das Gelände ganz gut einsehen. Hinter dem Zaun standen drei große Blockhäuser, die durch einen überdachten Gang miteinander verbunden waren. Sturmfenster machten es unmöglich, in die Gebäude zu schauen, doch zwei draußen geparkte Geländewagen und minimale Lichtverschiebungen verrieten Edie, dass sich drinnen Leute bewegten.
Das Mädchen musste aus einem der Blockhäuser hinter diesem Zaun gekommen sein. Als Edie und Derek sie gesehen hatten, trug sie ein dünnes Etwas, einen Hausmantel vielleicht , aber nichts, worin man eine Nacht im Freien überleben konnte. Diese Blockhäuser und die Gebäude auf dem Altgläubigen-Gelände waren die einzigen Häuser weit und breit. Nach Edies Überlegungen gab es drei Möglichkeiten: Man hatte das Mädchen an einen anderen Ort gebracht, sie war tot, oder sie war noch dort drinnen.
Edie ging in die Hocke und wartete.
Als Kind hatte ihre Mutter sie oft gescholten, weil sie so ungestüm war. Das sei ein Schatten auf ihrem Geist, hatte Maggie dann immer gesagt. In Autisaq konnte Ungeduld einen zu einer Handlung bewegen, die womöglich den Tod bedeutete. Etwas an der Szenerie vor ihr sagte Edie, dass es hier auch so war.
Sitzen, beobachten, warten.
Nach einer Zeit, die ihr ewig lang vorkam, öffnete sich die Hintertür des größten Blockhauses und zwei Männer erschienen. Der eine, den Edie nicht kannte, war ungefähr so alt wie sie, aber drei- bis viermal so dick. Er trug Jagdkleidung und ging wie ein Alk: Die Beine unter dem gewaltigen Bauch scherten seitwärts aus. Als er zum Tor schlenderte, hielt er das Remington- 700 -Gewehr, das er über die Schulter gehängt trug, mit der Hand fest. Der andere, ein magerer Mann um die fünfzig, dessen Gesicht unter der Baseballkappe mit dem Emblem der Anchorage Bucs verborgen lag, ging auf dem Kiesweg zum Carport. Dort blieb er bei einem neuen Mercedes-Geländewagen stehen und nahm die Kappe kurz vom Kopf, um sie anders aufzusetzen, und in diesem Moment erhaschte Edie einen Blick auf sein Gesicht. Den Mann hatte sie schon mal gesehen. Er hatte in Uniform in der Eingangshalle der APD -Zentrale gestanden und anscheinend auf seinen Chauffeur gewartet. Er war ein hohes Tier bei der Polizei, ein Oberboss.
Der Geländewagen setzte rückwärts, wendete in der Zufahrt und fuhr langsam aus dem Tor. Der Alk winkte kurz, schloss dann ab und begab sich wieder zur Hintertür. Edie sah dem dahinkriechenden Geländewagen nach,
Weitere Kostenlose Bücher