Zeichen im Schnee
Beifahrersonnenblende ihren Hinterkopf sehen konnte. Das Blut trocknete schon. Danach musterte sie im Rückspiegel genauestens ihr Gesicht. Ihre Pupillen wirkten unstet. Oder war das einfach ihr Gefühl? Es ließ sich schwer sagen. Sie machte das Radio an, stellte einen Hardrock-Sender ein und drehte voll auf. Auf dem Rücksitz gab Holzkopf ein schmerzhaftes Fiepen von sich. Edie lenkte den Wagen zurück auf die Straße und fing, um sich wach zu halten, an, die Titel sämtlicher Chaplin-Kurzfilme in umgekehrt chronologischer Reihenfolge aufzusagen.
Erst als sie vor der Tür ihres Apartments stand und immer wieder erfolglos versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, merkte Edie, wie durcheinander sie war. Alles wirkte leicht verzerrt. Endlich in der Wohnung, schaltete sie sämtliche Lichter ein und nahm eine kalte Dusche. Sie stand unter dem Strahl, und ihre Haare ergossen sich wie schwarzer Regen über ihre Schultern. Sie stieg aus der Dusche, griff nach dem Handtuch, und dann war alles plötzlich sehr, sehr weit weg.
Etwas später meinte sie Stimmen in der Wohnung zu hören. Sie schlug die Augen auf. Sie lag auf dem Boden im Bad, und irgendwer hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Sie zog sich am Waschbecken hoch und ging zur Tür. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie war so wackelig auf den Beinen wie ein neugeborener Welpe. Eine unbekannte Frauenstimme war gerade dabei, sich zu verabschieden. Als Edie endlich das Telefon erreichte, hatte die Anruferin aufgelegt. Sie wartete, bis das Lämpchen blinkte und drückte den Wiedergabeknopf. Die Frauenstimme war zurück:
«Miss Kiglatuk? Tut mir leid, Sie so spät noch zu stören. Es gibt ein Problem mit Mr. Inukpuk. Derek Palliser ist bereits nach Unalakleet geflogen. Sie müssen so schnell wie möglich nach Nome kommen.»
[zur Inhaltsübersicht]
27
Edie kämpfte heftig mit widerstreitenden Empfindungen. Die Kopfwunde machte sie schläfrig, aber sie wusste, dass sie sich jetzt nicht ausruhen durfte. Sie hielt sich wach, indem sie sich auf einem Kanal, der alte Spielfilme zeigte, Wiederholungen von
Dick und Doof
ansah und süßen Tee trank. Immer wieder rief sie bei Zach Barefoot an und sprach ihm aufs Band. Wenn man die Iditarod-Zentrale anrief, sprang sofort der Anrufbeantworter an. Als sie es ein paar Stunden lang vergeblich versucht hatte, ohne irgendwen ans Telefon zu kriegen, rief sie den diensthabenden Nachtschichtbeamten im Polizeirevier von Nome an, der ihr zwar versprach, sich kundig zu machen, dann aber nie zurückrief.
Um halb fünf Uhr früh zog Edie ihre Kälteschutzbekleidung über und verließ das Haus. Die Räum- und Streufahrzeuge waren noch nicht unterwegs, und es war mühsam und gefährlich, sich auf den vereisten Wegen fortzubewegen. Die Straßenlaternen beleuchteten die Fußabdrücke, die die demonstrierenden Bärenmamas in den Schnee gestampft hatten, und die über Nacht gefroren waren. Um viertel vor fünf stand Edie vor der
Schneeeule
. Sie hoffte, dass sie Stacey erwischte, ehe sie den Dienst antrat. Um zehn vor fünf tauchte ein bekanntes Gesicht aus der Dunkelheit und kam lächelnd auf sie zu.
«Mann, Edie, schläfst du eigentlich nie?» Die junge Frau fasste Edie am Arm und drückte ihn. «Komm rein und wärm dich auf. Der Koch kommt erst um fünf, aber ich kann dir Tee machen.» Sie sperrte die Tür auf, betrat das Café, schaltete das Licht an und entdeckte die Blutkruste an Edies Hinterkopf. Augenblicklich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
«He! Was ist denn passiert?»
Edie drückte die Hand, die immer noch auf ihrem Arm lag. «Das erzähle ich dir, wenn du mal wieder eine Woche Zeit hast.» Sie sah Stacey fest in die Augen. «Aber jetzt könnte ich echt deine Hilfe brauchen, Stacey.»
«Klar. Was immer du willst, ich bin für dich da.» Staceys Augen waren geweitet vor Sorge und Zuneigung. Einen Augenblick lang spürte Edie den heftigen Drang, Stacey die Wahrheit zu sagen, ihr alles zu erzählen – von Sammy und den Wunden, den alten und den neuen, einfach von allem, was sie hierhergebracht hatte. Doch wozu das Mädchen damit belasten? Stacey hätte nichts tun können, und außerdem hatte sie keine Zeit für Erklärungen. Sie musste den ersten Flug rauf nach Nome erwischen.
«Du musst dich um meinen Hund kümmern», sagte Edie. «Er ist in meinem Apartment.» Sie gab ihr die Adresse.
«Oh-kay?», sagte Stacey gedehnt und wartete auf den Haken.
«Er braucht jede Menge Auslauf. Er ist
Weitere Kostenlose Bücher