Zeig mir den Tod
Lene Assmann immer wieder zu dem hinteren Haustrakt blickte. »Annika ging es schlecht vor ihrem Verschwinden«, kam er auf das Anfangsthema zurück. »Ich wundere mich, dass Sie sie da allein im Park gelassen haben.«
Abrupt blieb sie stehen. »Sagt das diese Rapp?«
»Ihre Tochter hat zwei Tage in der Vorschule gefehlt. Die Woche davor war sie extrem müde und unkonzentriert. Dann kam sie wieder, aber es war nicht besser.« Eine Maigrippe, hatte Ingrid Rapp damals vermutet und hinter einer schmalen Brille hervorgelächelt, ein verwaschener Blick, den Ehrlinspiel nicht hatte deuten können. Grübelte sie noch immer über das Mädchen nach? Zweifelte sie an ihrer eigenen These? Maigrippe. Ehrlinspiel glaubte etwas anderes. Die Beschreibung von Annikas letzten Schultagen hatte den Hauptkommissar sehr an Rebeccas Symptome erinnert. Zu sehr.
»Gefehlt, ach das meinen Sie.« Lene blickte über die akkuraten Wege, niedrigen Hecken, Bäumchen und Steinstatuen, auf denen der letzte Schnee wie kleine Mützen saß. Ein Eichhörnchen kletterte leise raschelnd einen Baumstamm hinauf. »Annika war ein wenig erkältet. Nichts weiter. Sie hatte sich in den zwei Tagen zu Hause erholt und war schon fast wieder so quirlig wie eh und je. Da konnte ich sie ja schlecht einsperren.«
»Hatte Annika Diabetes?«
Sie schnaubte. »Was spielt denn das noch für eine Rolle! Suchen Sie lieber nach meinen anderen Kindern! Und zwar nicht erst morgen!«
Er hob die Augenbrauen, erstaunt über den plötzlichen Ausbruch. »Es spielt durchaus eine Rolle. Wenn Annika Diabetes hatte, und das vor fast zwanzig Jahren, sind ihre Überlebenschancen ohne Behandlung nicht sehr hoch gewesen. Die Therapie war Anfang der Neunziger lange nicht so flexibel wie heute. Da hat schon eine Stunde ohne Spritze eine Gefahr bedeutet. Das wissen Sie. Oder war es nur eine … Maigrippe?«
»Sie war erkältet!« Lene Assmann ging mit großen Schritten weiter. Ehrlinspiel eilte hinter ihr her. »Schämen Sie sich?«
»Wofür?« Sie umrundeten die Villenrückseite und gingen über die Terrasse ins Wohnzimmer. Lenes kniehohe Stiefel hinterließen dreckige Wasserflecke auf dem Parkett. In den Ecken lag Staub, benutzte Gläser standen auf dem Esstisch. Zögerlich folgte Ehrlinspiel ihr in die Küche, die Hinterlassenschaft seiner Dockers sah auf dem Boden nicht besser aus. Ihre Mäntel hängten sie in den Dielenschrank.
»Für die Krankheit Ihrer Kinder.« Für den Dreck schämte sie sich offenbar nicht, und die Putzfrau schien gestern auch nicht da gewesen zu sein.
»Für
meine
Krankheit, meinen Sie.« Sie nahm drei Tassen aus einem Hängeschrank, stellte die erste unter eine riesige Kaffeemaschine und drückte auf einen Touchscreen an der Front. Es ratterte, zischte, und gleich darauf ergoss sich ein dünner schwarzer Strahl in die Tasse. Sie reichte sie Ehrlinspiel. »Milch? Zucker?«
»Schwarz, danke.« Der Kommissar traute sich kaum, sie anzufassen, so teuer sah das hauchdünne Gefäß mit der quadratischen Form aus. »
Ihre
Krankheit?«
Sie hob den Saum ihres Rollkragenpullovers hoch. Und da sah er es: das halbe Ei. Die Insulinpumpe. So groß wie ein Smartphone. »Ist Diabetes vererbbar?«, fragte er.
»Die Forschung ist sich uneins.«
»Und Annika?«
»Meine Tochter hatte die Grippe!« Günther Assmann tauchte in der Tür auf. Burgunderfarbenes Hemd, Jackett, schwarze Hose – als wollte er ausgehen. »Und Krankheiten in meiner Familie lassen Sie bitte unser Problem sein.« Er küsste Lene auf die Wange. »Morgen, Schatz. Bist du okay? Haben die Schlaftabletten gewirkt?«
Lene stand reglos wie eine der Statuen im Park. In ihrer weiten Stoffhose und mit dem offenen Haar, das ihr bleiches Gesicht umrahmte, wirkte sie erschöpft.
»Schon aufgestanden?« Ehrlinspiel konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Und guten Morgen auch, Herr Assmann.« Der Mann, der zu Theaterproben ging, während die Polizei seine Sprösslinge suchte und seine Frau allein zu Hause saß und bangte, der seine Zustimmung zu einer Suche via Fotos verweigerte und der heimlich lauschte, wurde ihm mit jeder Begegnung unsympathischer. Oder wie sonst war er auf die Grippe gekommen? Vermutlich war das Fenster einen Spalt geöffnet gewesen, und er hatte ihre Unterhaltung belauscht. Andererseits hatten die Assmanns eine »leichte Erkältung« der Tochter schon damals zu Protokoll gegeben. Doch bei weitem nicht so detailliert, wie Ingrid Rapp es heute früh berichtet hatte.
Assmann ließ
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