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Zeig mir den Tod

Zeig mir den Tod

Titel: Zeig mir den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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erbrochen.
    Der Schnee auf den Parkwegen war weggetaut, und von den riesigen Bäumen tropfte das Wasser, als wolle sich alles auflösen – vage Spuren, Hoffnungen und die Liebe.
    Er verscheuchte die Gedanken. Die Müdigkeit wurde er nicht los. »Annika war immer aufgeweckt, ein Plappermaul und bei allen beliebt.« Er sah Ingrid Rapps Gesicht vor sich, zwischen einer Pflanze mit braunen, hängenden Blättern, einer Zeitschrift für Geschichte, einem Fernsehheft und ein paar gerahmten Fotos. Er hatte Annikas Vorschullehrerin in einer winzigen Wohnung eines Hochhauses gegenübergesessen, wo sie ihm eine Tasse Kaffee serviert hatte. Wach war er davon nicht geworden, und sein schlechtes Gewissen quälte ihn. Bis kurz vor zwei Uhr früh hatte er mit Hanna telefoniert. Und es nicht gewagt, ihr die Vorfreude auf das erste Wochenende in der gemeinsamen Wohnung zu nehmen. Das erste Wochenende ihres neuen Lebens. Hanna hatte gelacht, geplaudert, Pläne geschmiedet. Er hatte an Rebecca, Marius und Annika gedacht. Und daran, dass Hanna allein in der Wohnung bleiben würde, samt den ganzen Umzugskisten und dem kranken Kater.
    »Ja, ein Plappermaul, das war sie.« Lene Assmann schlang die Arme um ihren Oberkörper und bog auf den Hauptweg ein, an dessen Ende das Dach des weißen Pavillons in der Sonne glänzte.
    »Hatte Annika Ähnlichkeit mit Rebecca?«
    Lene schwieg, und kurz vor dem Pavillon blieb sie neben einem nass glänzenden Stein stehen. Er war groß und rötlich und schien unbearbeitet – bis auf die Gravur
Wir vermissen dich,
die einmal golden gewesen sein musste und jetzt nur noch matt schimmerte. Sechs kugelförmige Bäumchen standen im Halbkreis um den Stein. »Hier hat sie gespielt, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.« Lene Assmann ging in die Hocke. »Ich bin so müde. Ich bin die ganze Nacht herumgelaufen und -gefahren, den ganzen Lorettoberg habe ich abgesucht, und im Sternwald war ich und an der Schule.« Sie fuhr mit einem Finger den Schriftzug nach. »Ich muss sie finden. Es ist … wie bei Annika.«
    Ehrlinspiel klappte den Kragen seines Mantels hoch. Sieht aus wie ein Grab, dachte er.
    »Es war niemand hier draußen außer ihr. An dem Maiabend damals nicht und sonst auch nicht, wenn ich nicht gerade dort gearbeitet habe. Annika hat mir oft zugeschaut und manchmal auch mitgemacht. Sie hat mir Blumenzwiebeln gereicht, kleine Löcher für Setzlinge gegraben oder Schnittgut auf die Schubkarre geworfen. Wenn sie allein hier war, hat sie immer gedacht, dass niemand von uns da drinnen weiß, dass sie draußen ist. Kinder!« Sie lachte auf, und ihr langes Haar fiel über ihre Schultern nach vorn und berührte den Stein. »Annika hat es geliebt, vom Garten aus ins Haus zu schauen. Manchmal stand sie minutenlang reglos hinter einem Baum und hat uns beobachtet, und danach hat sie uns erzählt, dass das Licht der Deckenlampe von außen blau aussieht und die Wand hinter dem Tisch ein Bild zu wenig hat und dass sie Mama und Papa genau sehen kann, wenn die vor den Bücherregalen entlanglaufen, und dass Mama und Papa schön und lieb aussehen, wenn sie sich umarmen.«
    Ehrlinspiel blickte zu dem Haus. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern, und was sich innen befand, konnte er nicht erkennen. Keine Deckenlampe, keine Wände, keine Regale. Aber vielleicht gab es die ja heute gar nicht mehr. Was er aber sah, war ein Gesicht. Wie ein schattiges Oval glitt es hinter einem Fenster im hinteren Gebäudeteil vorüber, hielt inne, nur kurz, verschwand wieder. Er mutmaßte, dass dort die Zimmer der Eltern lagen, denn dort war er noch nicht gewesen.
    Lene Assmann, die auch hinüberblickte, stand ruckartig auf und trat einen Schritt von Ehrlinspiel zurück.
    Assmann! Er beobachtete sie. Der Vater, der immer bis acht Uhr fünfzehn schläft. Selbst dann, wenn seine Kinder verschwunden sind und seine Frau die Nacht mit der einsamen Suche nach ihnen verbringt. Selbst dann, wenn die Polizei um acht Uhr klingelt. Er presste die Lippen aufeinander. Kinder sind die Flügel der Menschen, hatte Idris gesagt. Assmann schien seine Höhenflüge auch ohne diese Flügel realisieren zu können.
    »Ich will nicht, dass hier bald drei Steine stehen.« Dann sprach sie ganz leise, als verriete sie ein Geheimnis, und ihr bernsteinfarbener Blick schien ihn fast körperlich zu berühren. »Sie müssen mir helfen!« Damit drehte sie sich um, und er ging neben ihr her Richtung Haus.
Mir
helfen?, dachte Ehrlinspiel. Nicht
uns?
Ihm entging nicht, dass

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