Zeig mir den Tod
Hause.«
Er lehnt seine Stirn gegen ihre. »Ich hole Hilfe«, flüstert Marius. »Ich verspreche es.«
»Tust du gar nicht! Du hast auch dauernd versprochen, mit mir zu spielen und an Weihnachten ein Schneehaus zu bauen und …« Husten schüttelt sie, Marius richtet sich auf, hebt sie an den Schultern leicht an, doch sie kann nicht aufhören zu husten, und in ihrem Innern wird es immer heißer und tut immer mehr weh. »Und du hast nie mehr Zeit«, sagt sie, als sie wieder Luft bekommt.
»Ich muss fürs Abitur lernen, das weißt du doch.«
»Aber Torben sagt, du hast schlechte Noten. Du lernst gar nicht!«
Sein Griff wird hart. Er steht auf, sie fällt auf das Polster der Bank zurück.
»Torben? Was hast
du
mit Torben zu schaffen?«
In dem Moment fängt draußen das schwere Stampfen wieder an, das sie schon früher gehört hat. Es kommt immer wieder. Inzwischen erschrickt sie nicht mehr. Leise stampft der Riese heran, der natürlich keiner ist, das weiß sie. Aber sie weiß nicht, was es ist, und wie viel Uhr es ist und welcher Tag. Sie hat so viel geschlafen. Der Riese nähert sich, zermalmt unter seinen dröhnenden Schritten alles da draußen, die Wiesen und den glitzernden Gürtel mit den Punkten, den sie durch die Ritze entdeckt hat.
Sie kauert sich ganz eng zusammen und beobachtet ihren Bruder. Seine Hände sind schon wieder zu Fäusten geballt. Hinter ihm flackert die gelbe Flamme des Gaskochers.
»Lass mich!« Jetzt kriegt sie doch Angst. Und sie ist so müde.
Marius zieht sie grob an einem Arm hoch, ihre Schulter schmerzt. »Hat der Kerl dir etwas getan?«
Sie windet sich, aber seine Finger schneiden nur noch fester in ihren Oberarm. »Du tust mir weh!«
»Entschuldige!« Er lässt sie los, schließt sie in die Arme. »Verzeih mir«, flüstert er. Dann sieht er sie an, sein Atem streift ihr Gesicht. »Hat Torben dir etwas getan?«
»Ist Torben dein Freund? So wie Amelie meine Freundin ist?«
»Was hat er dir erzählt?«
»Nichts. Er hat nur gesagt, dass du ein, ein … schlechter Schüler bist und ich aufpassen soll, dass du lernst. Und dass du so eine schöne Jacke hattest.« Sie erinnert sich genau an den großen Jungen mit der öligen Frisur, der plötzlich neben ihr stand, als sie vor der Aula auf Mama gewartet hat. Er war auch unter denen, die gegrinst haben, als sie Marius’ Jacke aus dem Müll gezogen haben. Sie weiß auch noch genau, was er gesagt hat, aber das erzählt sie Marius jetzt nicht: »Hallo, Becci. So heißt du doch?« Er hat gelächelt und sich neben sie an die Wand gelehnt, wollte bestimmt cool sein. »Ich bin der Torben. Und ich sorge mich um deinen Bruder.« Dann hat Torben erzählt, dass Marius schlechte Noten hat und sie mit ihrem Papa über den geliebten Stammhalter reden sollte. Sie hat nicht verstanden, was er meinte, und ist weggelaufen. »Du solltest Sorge dafür tragen, dass dein Bruderherz lernt«, hat er ihr nachgerufen. »Es würde mir das Herz brechen, ihn versagen zu sehen.« Der redete auch so komisch, fast wie Papa, wenn er seine Texte vor sich hinmurmelt.
»Hat Torben sonst noch etwas gesagt?«
Sie schüttelt den Kopf, und wieder beginnt sich alles zu drehen, jetzt schneller als vorher. Die Wände verbiegen sich, und Marius wankt von ihr weg, kniet sich vor den Gaskocher, murmelt etwas. Sie muss wieder husten, und es fühlt sich an, als würde jemand sie mit Händen so groß wie Baggerschaufeln zusammenquetschen, die ganze Becci, so weh tut es, und so eng ist es unter ihrer Jacke. Sie hört ihren eigenen Atem, inzwischen klingt er wie ganz viele scharrende Mäuse, ein ganzes Baumhaus voll.
»Scheiße«, hört sie Marius sagen, »verdammte Scheiße!«, und er schlägt gegen die Tür ihres Gefängnisses.
Wumm. Wumm.
»Du Bastard!«
Ein Vogel kreischt, er ist gleichzeitig direkt neben ihrem Ohr und weit weg im Himmel. So etwas hat sie schon einmal erlebt, da ist dann ein Krankenwagen gekommen und hat sie in die Klinik gebracht, mit Tatütata und Blaulicht, das hat durch die Nacht geblitzt. Damals hat auch ihr Bauch ziemlich weh getan. Das war wegen zu wenig Insulin, hat Mama später gesagt und sich furchtbar aufgeregt, dass Becci unvorsichtig gewesen ist. Jetzt tut ihr Bauch nur ein bisschen weh. Marius sagt, sein Bauch tut vom Stress weh.
»Marius?« Sie hört sich selbst nicht mehr, aber Marius hat es wohl gehört, denn er kommt zu ihr. »Wir schaffen das, Zuckermaus!« Seine Hand streicht über ihre Wangen, immer wieder. »Ich hol dich hier wieder
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