Zeig mir den Tod
Sie hebt den Kopf und schüttet gierig das Wasser in sich hinein. Es schmeckt fade, nach nichts. Sie will lieber Cola. Von den Keksen hat sie richtig Durst bekommen.
Nein, Marius lügt nicht. Bestimmt will er nur, dass sie keine Angst hat. Dabei hat sie gar keine Angst. Sie hat nur keine Lust mehr auf Räuber und Gendarm. Sie will nach Hause. Zu Mama. Und wenn sie schimpft, weil sie so lange weg war und die Strumpfhose kaputt ist, dann zieht sie sich einfach die Decke über die Ohren. Mit Marius schimpft sie nie. Weil der immer gleich abhaut und dabei richtig laut die Tür zuknallt, wenn ihre Stimme so schrill und hoch wird. Nur einmal hat sie ihn angeschrien. Das ist noch gar nicht lange her. Es war direkt nach den Weihnachtsferien, an dem Tag, als er seine neue Jacke in der Schule nicht gefunden hat. Sie haben sie gesucht, Marius und Becci, und in dem großen Müllcontainer in der Ecke vom Schulhof gefunden, neben der Sporthalle. Die Ärmel waren zerschnitten, und sie hat richtig ekelhaft nach verschimmelten Orangenschalen und ranziger Butter gestunken, Flecken waren natürlich auch darauf. Ein paar Typen haben blöde gegrinst. Da hat Mama richtig geschrien, warum er nicht auf seine Sachen aufpassen kann. Marius hat nichts gesagt und sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Aber sie hat gesehen, dass er geheult hat. Er hat Becci später gesagt, dass er tagelang ganz schlimm Bauchweh hatte.
Als er in seinem Zimmer war, ist Mama ganz still geworden. Sie hat es wie immer gemacht. Sie setzt sich dann auf einen Stuhl und nimmt Becci an den Händen und erklärt ihr zum millionsten Mal, dass wenigstens sie brav sein muss. Dass sie keine Schokolade und keine Gummibärchen und kein Brot essen soll, ohne den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Bloß weil sie bei sich selbst immer alles so pingelig macht. Wie mit einem Baby spricht Mama mit ihr. Dabei ist sie doch schon zehn Jahre alt! Und außerdem mag sie die weißen Mäuse aus Schaumzucker viel lieber als Schokolade und Gummibärchen, weil man auf denen so schön herumkauen kann und weil die dann überall kleben, zwischen den Zähnen und am Gaumen. Amelie hat manchmal weiße Mäuse dabei und schenkt Pauline und Becci ein paar. Wenn Mama das wüsste!
Am Anfang hat Becci sich nicht gewehrt. Weil sie immer gehofft hat, dass sie Haustiere bekommt, wenn sie brav ist und niemandem von ihrem Diabetes erzählt. Am besten ein paar Mäuse, die aus einem Versuchslabor stammen und die sie retten kann. Oder zwei Meerschweinchen. Zwei, damit kein Tier allein ist. Später einen Hund. Aber Mama meint, Tiere machen zu viel Dreck und übertragen Krankheiten. So ein Blödsinn! Also hat Becci stillgehalten, wenn sie vor dem Stuhl gestanden hat, und einfach nur die Augen verdreht. Das hat sie einmal im Theater gesehen, als sie in einer Kinderaufführung waren, in der Papa einen dicken Narren mit Glöckchen an der Mütze gespielt hat. Da ist er richtig lustig gewesen. Aber danach nicht mehr. Letztes Mal hat sie sich einfach losgerissen und ist in ihr Zimmer hinaufgerannt, ganz laut hat sie dabei gestampft, so wie Marius es auch kann, und unterwegs hat sie Papa getroffen. Der kam aus seinem Zimmer und hat dann auch geschimpft, sie solle nicht so einen Lärm machen, er müsse einen Text lernen. »Blöder Text, blöder Papa«, hat sie geschrien, und er hat gebrüllt: »Hat man denn nirgends seine Ruhe! Ich ziehe in den Wohnwagen, wenn ihr so weitermacht!« – »Du hast doch gar keinen Wohnwagen! Du bist ein Angeber!«, hat Becci zurückgebrüllt, und Papa hat gesagt, er gehe jetzt und komme erst zurück, wenn sie gelernt hätte, ihn zu respektieren. Voller Angst, dass er sie verlassen könnte, ist sie in ihr Zimmer gerannt, vorbei an Marius, den sie gar nicht gesehen hat, und hat sich auf ihr Bett geworfen. Irgendwann hat sie den Kopf unter dem Kissen hervorgestreckt. Marius hat auf dem Rand ihres Bettes gesessen. »Meine Zuckermaus«, hat er geflüstert.
Jetzt legt sie den Kopf in Marius’ Schoß. »Ich will nach Hause.« Beim Sprechen tut ihr alles weh. Der Rachen, die Zunge und der ganze Hals. Und wenn sie atmet, brennt es in ihrer Brust. Warm ist es trotzdem nicht.
Etwas Nasses tropft auf ihre Wange. Sie sieht hoch, aber da ist nur das Gesicht von Marius. Er trägt keine Brille, und seine Haare hängen wie dicke Fäden über seine Augen.
»Marius, da tut alles weh.« Sie schiebt die Decke weg und legt die Hand vorn auf ihre Jacke. »Und mir ist schwindelig. Ich will nach
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