Zeig mir den Tod
heben die Köpfe in meine Richtung. Sie warten auf meinen Auftritt. Sind mein letztes Publikum. Sie müssen sich noch ein paar Minuten gedulden.
Ich sehe rechts neben mir in die Birke hinauf. Alles ist genau so, wie ich es vorbereitet habe. Nichts fehlt. Nicht das Seil, nicht die kleine Trittleiter aus dem Stall, nicht der Mut.
Die Wiese zwischen mir und dem Wald wandelt sich jede Sekunde. Die Tautropfen glitzern wie ein grünes Meer aus Brillanten, das sich sanft im Südwind bewegt, und ich glaube, Salz zu schmecken. Doch es ist nur der Geruch von Öl und Algen, den ein erster Wind herüberträgt.
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Rechts, wo auf dem frisch gepflügten Feld die Ackerschollen aufgebrochen daliegen wie die Körper von Tieren, wird bald ein Bauer Getreide säen. Er wird nicht applaudieren, wenn er nachher auf dem knatternden Traktor heranfährt. Vielleicht wird er böse sein. Vielleicht auch enttäuscht. Oder schockiert. So wie die Leute, die sich alle so sehr auf den Premiereabend gefreut hatten. Diese Naivlinge, die dachten, Lene und Günther Assmann hielten zusammen. Die Frau des Schauspielers, die ihm zugesteht, trotz schrecklichem Kummer und Angst aufzutreten. Die ihn liebt. Die hinter ihm steht.
Und dann … eine Betrügerin. Lene eine Betrügerin! Wer sollte das schon glauben?
Ich muss lachen.
Dass ich überhaupt noch lachen kann an diesem Morgen. Galgenhumor! Ich lache erst recht.
Die Rehe kommen näher. Ich bewege mich nicht. Sie senken den Kopf und äsen zwischen den Resten der Nacht.
Ich hätte die zweite Katastrophe verhindern können. Das Unglück nach Annika. Ich habe Marius und Rebecca den Vater gestohlen.
Hinter meinen Lidern sammeln sich Tränen, dunkel und schwer. Es ist die Trauer. Trauer um mein verlorenes Leben. Aber das Wasser wird alles wegspülen. Zurück in das Gras, in die Erde, wo die toten Kinder liegen.
»Es tut mir so leid, Junge«, flüstere ich. »Verzeih mir.«
Eine Krähe schreit, eine zweite antwortet etwas leiser, und die Rehe fliehen in den Wald.
Früher glaubten die Menschen, dass Raben und Krähen Vorboten des Todes seien.
Sie hatten recht.
Asche zu Asche.
Staub zu Staub.
Schuld zu Schuld.
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21
Sonntag, 24 . März, kurz vor dem Morgengrauen
D ie Chaiselongue knarrte leise, als Günther sich umdrehte. Er lag vollständig angekleidet auf dem Rücken und blickte unverwandt auf den gelben Kreis, den die Laterne durch das Fenster an die Zimmerdecke warf. Lene hatte darauf bestanden, die Lichter im Garten anzulassen. Der Morgen brach schon bald an, und noch immer war er zu keiner Entscheidung gelangt.
»Bestimmt kommen sie heute Nacht zurück, dann müssen sie es doch hell haben«, hatte seine Frau mit diesem weinerlichen Unterton zu Jo Krenz gesagt. Der saß jetzt unten im Wohnzimmer und hielt seiner Frau wahrscheinlich Händchen – falls Lene sich nicht mit einer doppelten Dosis Schlaftabletten ins Bett gelegt hatte. Oben, in dieses Luxusbett mit dem von Seide überzogenen Kopfteil und den unzähligen Kissen. Das Bett, in dem er heute Nacht nicht liegen wollte, nicht konnte, obwohl zwischen ihm und seiner Frau eine komplette Armee Platz gefunden hätte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie das genossen hatten, stundenlang, nächtelang, eine riesige Spielwiese ihrer Lust. Jetzt war es Brachland, nichts als Schlafstätte zweier Körper, die sich vom Alltag erholen mussten, um am nächsten Tag ihren Trott wiederaufnehmen zu können.
Er drehte sich auf die Seite. Fand keine Ruhe. Nicht, seit er von der Generalprobe zurück war und Ehrlinspiel noch einmal auf ihn eingeredet hatte, dass er sich morgen zum Idioten zu machen habe. Dabei musste er sich vor der Premiere doch schonen! Nicht viel reden, sich nicht erkälten, ausreichend schlafen.
Günther schloss die Augen. Seine Glieder waren schwer, doch seine Gedanken drehten sich rastlos wie ein Kettenkarussell, kamen ein Stück näher, entfernten sich, kehrten zurück, machten ihn schwindelig.
Schande!
Konnte es tatsächlich sein, dass Lene ihn betrogen hatte? Lene, für die er sein Leben gegeben hätte, damals, als er ihr vor siebenundzwanzig Jahren begegnet war? Immer wieder musste er an die Cafeteria im Krankenhaus denken. Manchmal konnte er noch das Parfum riechen, das sie damals getragen hatte, süß und blumig, eigentlich so gar nicht sein Geschmack. Er war mit Gipsbein und Krücken zu dem Kaffeeautomaten gehumpelt, sie hatte gelächelt. Zwei Tage, nachdem er mit Edith betrunken durch die
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