Zeig mir den Tod
Bezeichnung gewesen. Und immer war es Lene gewesen, die schwach schien. Das Waisenkind, dem zwar Reichtum, aber keine Familie geblieben war. Das Diabetes hatte und nur nach Vorschrift essen und trinken durfte, ständig Medikamente brauchte. Und dann, als alles gut schien, ihr Kind verlor. Diesen Engel.
Er setzte sich auf den Bettrand, im Herzen die Angst und Hilflosigkeit, in den Lenden das Ziehen. Lene murmelte im Schlaf, schlug mit der Hand um sich und atmete schwer.
Warum sollte ihre Schwäche nicht auch Uwe fasziniert haben? Diesen mehr als zwanzig Jahre älteren Mann, der später, an dem verhängnisvollen dreiundzwanzigsten Mai 1993 , neben Lene gestanden und den Arm beschützend um sie gelegt hatte? Er hatte Lene irgendwelche Pillen zur Beruhigung gegeben, während er, Günther, vor Verzweiflung schrie. Edith hatte an dem Abend die Judith in Friedrich Hebbels gleichnamigem Trauerspiel gegeben und wollte später noch zu ihnen in die Villa kommen, hatte es aber nicht mehr geschafft, weil ein paar Journalisten sie noch interviewen wollten. Sie hatte Glück gehabt. Ihr waren die ersten Stunden des Alptraums erspart geblieben. Vermutlich hatte sie deshalb zu ihm halten können all die Jahre. Und darin war sie gut gewesen. Zu gut. Sie hatte unglaubliches Talent, schon immer gehabt. Und sie hatte den besten Ehemann der Welt. Uwe liebte und verehrte Edith über alles, das wusste Günther. Er hätte seine Karriere verwettet, dass er sie niemals betrügen würde. Doch was mutmaßte ausgerechnet er, Günther, über Betrug und die Masken der Menschen.
Günthers Hand glitt über Lenes Hüfte, fuhr die Rundungen nach.
Uwe und Lene? Lene und Uwe? Angst und Verzweiflung, Verzweiflung und Angst, dachte er und umfasste sie von hinten, presste sich an sie, in leichten Bewegungen, dachte, es ist widernatürlich, doch als sie sein Verlangen erwiderte, seinen Rhythmus aufnahm, sich dann umdrehte und nach ihm griff und ihn überall gleichzeitig zu berühren schien, ignorierte er seine Bedenken, und sein Leben konzentrierte sich allein auf seine körperliche Gier. Er war brutal und rücksichtslos, und Lene beantwortete seine Härte. Es war, als wollten sie einander bestrafen für alles, was je gewesen war. Damals und jetzt. Sühne und Schmerz. Schuld und Trauer.
Danach war alles leer.
Sie lagen nebeneinander, blickten an die Decke, und irgendwann fragte sie in die Stille: »Wie geht es dir?«
Was für eine dämliche Frage!
»Bist du nicht erleichtert?«
Da war er wieder. Ihr weinerlicher Unterton. Sie musste alles kaputt machen. Er setzte sich auf.
»Dein zweites und Dein drittes Kind, in meiner strengen Obhut sind. Sie sterben, falls nicht öffentlich bekennen wirst zur Schande Dich«, zitierte sie die Nachricht des Entführers. »Es geht nicht um Annika. Davor hattest du doch Angst, oder? Das muss dich doch beruhigen! Das genügt dir doch. Jetzt glaubst du, du bist raus aus der Sache, du Feigling! Marius und Becci sind dir so gleichgültig wie meine Einsamkeit.«
Fassungslos starrte er sie an.
»Es wäre vielleicht wirklich besser gewesen, ich hätte sie mit einem anderen gezeugt.«
»Hätte?« Er sprang auf und raffte seine Kleider zusammen wie ein Fremder, der mit der falschen Frau im falschen Hotelzimmer gelandet war. »Den Konjunktiv kannst du dir sparen. Hure!«
»Erinnerst du dich nicht mehr an dein Versprechen?
Du
bist die Hure. Ein Verräter!«, schrie sie ihm hinterher, doch die letzten Worte hörte er nur noch durch die geschlossene Badezimmertür. Er trank eiskaltes Wasser aus dem Hahn, spritzte sich Wasser ins Gesicht, wusch sich und ging in sein Zimmer zurück.
Dort wickelte er sich in eine Decke und trat ans Fenster. Der Schein der Gartenlaterne war im anbrechenden Morgenlicht kaum mehr zu sehen, und die Bäume am Rand des Grundstückes waren grün und nicht mehr nur dunkle Schatten. Um den Pavillon flogen Vögel, und als einer davon auf den Annikastein hüpfte, sehnte Günther sich so sehr nach Licht und Glanz und dem Engelsstaub, dass er von der Stirn bis in die Zehen Schmerzen spürte.
Unten im Wohnzimmer waren Schritte zu hören, eine Tür wurde leise geöffnet. Krenz war also auch schon wach.
Die Dunkelheit, die ihn damals umfangen hatte, war nie wieder ganz von ihm gewichen. Es hatte Lichtblicke gegeben. Sicher. Aber Annika war verloren. Irgendwann war die unendliche Dunkelheit zwar eine endliche geworden, ein Fleck, der sich in seiner Seele eingenistet hatte und von dort immer und immer wieder
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