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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Fernsehen in Kürze ein wenig an seiner Bischofsmütze zupfen, ludBenedikt XVI., diesmal mehr in seiner Eigenschaft als Professor Ratzinger denn in der des Nachfolgers Petri, dieser Tage in die Sixtinische Kapelle ein und hielt vor 260 gottlob durch und durch autonomen Künstlern einen Vortrag über die via pulchritudinis, die zu Gott führt.
23. November, Köln
    In Nabokovs nachgelassenem Romanfragment Laura unterzieht sich der Erzähler einer philosophischen Sterbeübung. »Ich entdeckte durch Zufall die Kunst, meinen Körper wegzudenken, mein Sein, den Geist. Den Gedanken selbst wegzudenken – luxuriöser Selbstmord, köstliche Auflösung.« Bis hierhin sind das bloße Behauptungen – von der vorgeblichen Auflösung sieht man nichts.
24. November, Berlin
    Prominenz als geistige Übung: in viele Zerrspiegel sehen und so oft wie nötig die Formel anwenden: Das bin ich nicht, das bin ich nicht.
    Man muß vielleicht in den Zerrspiegeln gefallene Gehirne sehen. Wir denken dabei heute sofort an Defekte im Modus Alzheimer. Aber auch schon die gewöhnlichen, vom Habitus programmierten Gehirnzustände sind wenig erfreulich, da sie überwiegend mechanisch funktionieren. Wie Jukeboxes spielen sie ihre Nummern ab. Sie sind von ihrem bisherigen Betrieb fast irreversibel verdorben. Das gilt oft auch bei Individuen, denen man strahlende Intelligenz zutraute.
    Und wenn jeder Mensch ein in einem Gehirn gefangener Engel wäre? Wie ließe er sich befreien? Durch Deprogrammierung? Durch Anleitung zum Vergessen? Durch Auflösung des thematischen Bewußtseins? Der alte Kant wurde wunderlich und hilflos. War das seine Befreiung vom kantianischen Ansatz? Der alte Ronald Reagan wußte nicht mehr, wie das Land hieß, von dem die Leute behaupteten, er sei einmal sein Präsident gewesen. War es seine spirituelle Befreiung?
    Niemand kann sagen, ob es nicht Adam ähnlich erging. Vielleicht war er auf seine alten Tage außerstande, sich zu erinnern, was für eine Frucht es war, die er nicht hätte essen sollen.
26. November, Karlsruhe
    Unter den jüdischen Nietzscheanern figurieren u.a. Martin Buber, Salomo Friedländer-Mynona und – Ayn Rand, 1905 als Alisa Rosenbaum in St. Petersburg geboren!
    In Nigeria, notiert Wolf Lepenies in einer Buchrezension, kommen jedes Jahr mehr Kinder zur Welt als in der Europäischen Union, circa 5 Millionen. Er weist hin auf ein Manifest aus der Feder von Wangari Maathai, der Friedensnobelpreisträgerin von 2004, The Challenge for Africa . In dem beklagt sie das Defizit an Gemeinwohlbewußtsein bei den afrikanischen Eliten, die sich über Jahrzehnte frenetisch bereichert haben, ohne sich ihren Kollektiven verpflichtet zu fühlen. Diese Welt aus »Regenbogennationen« hat keine praktikable Ethik des Zusammenlebens in größeren politischen Komplexen hervorgebracht. Zwar spricht man bei uns seit einer Weile von der afrikanischen Wir-Ethik, die Afrikaner selbst scheinen von ihr noch nichts gehört zu haben.
    Europas zweite Schuld: Man hat Afrika nicht nur besetzt und beherrscht. Man hat die leere Hülse »Nationalstaat« dorthin exportiert, wo sie mangels lokaler Zivilgesellschaften keinen Sinn ergibt. Jetzt dient sie dazu, politischen Müllhaufen eine völkerrechtliche Form zu bieten.
    Man stelle sich ein Ruderboot vor, bemannt mit halb verdursteten Hegelianern, die an der Küste Nigerias stranden: europäische Boat People, die es nicht bis ins Landesinnere schaffen werden, erst recht nicht bis in Innere der Bewußtseine.
    Auf Suaheli heißt »Regierung«: »sirikali«, wörtlich: »großes Geheimnis«. Politiker heißen »wabenzi«: »Leute im Mercedes-Benz«.
    Von Eckhard Nordhofen ein Schlüsselsatz zur Farbenlehre der Postmodernde: »Zuviel Buntes macht grau.« Gefunden in einer Kritik zu dem Buch von Linus Hauser, Kritik der neomythischen Vernunft. Band I: Menschen als Götter der Erde, 1800-1945 .
    Was das Internet alles ist: Das Organon des Weltgeists, die Basis-Technik für die globale Demokratie, der neue Kristallpalast, der universale Basar. Zugleich ein digitales Bahnhofsviertel, bestenfalls ein virtueller Hyde-Park, in dem jeder Erregte von seiner Gemüsekiste herab pestet.
    Einladung nach Moskau zu einer Serie von Vorträgen über »Gegenwart der Zukunft«.
    Psychoanalyse in eigener Sache. Bis vor circa zehn, fünfzehn Jahren durfte ich mir einbilden, ich hätte nur ein persönliches Unbewußtes, in dem mehr oder weniger automatisch das privat Vergessene, Unbeachtete, Unwillkommene abgelegt wurde,

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