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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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mal ein Blick an die antimoderne Front: Mir fällt Robert Spaemanns Traktat über den von ihm oder seinem Verleger so genannten »letzten Gottesbeweis« in die Hände. Der Autor stellt diesen als einen Beweis »aus der Grammatik« vor, wobei ihm selbst klar sein dürfte, daß es sich eher um eine Suggestion als um einen Beweis handelt, sofern man eine Vorstellung von dem besitzt, was Logiker als einen Beweis gelten lassen.
    Der Gedanke ist von aufsehenerregender Dürftigkeit: Weil es faktisch wahr ist und für immer wahr bleibt, daß wir hier und jetzt so und so »da« sind, ist die Vorstellung anstößig, es werde eines Tages niemanden mehr geben, für den das Wahrsein der historischen wahren Aussage über unsere jetzige Situation von Belang wäre. Spaemann meint, wir könnten schon jetzt nicht mehr so recht wirklich sein, wenn wir denken müßten, daß wir dereinst so gut wie nie gewesen sein werden. Bedauerlicherweise sind wir selber außerstande, die Wahrheit über unser Sosein festzuhalten, da wir der Vergänglichkeit unterliegen. Also muß es ein transzendentes und unvergängliches Bewußtsein geben, Gott genannt, das sich alles so merkt, wie es wirklich war … quod erat demonstrandum.
    Es lohnt nicht, sich mit der Schlüssigkeit dieser Überlegung aufzuhalten. Dennoch besitzt Spaemanns »Beweis« einen indirekten Wert: Er zeigt, wie die postmetaphysische Intelligenz sich heute mit Problemen der Aufbewahrung zu befassen hat. Hierin folgt sie den Spuren der metaphysischen, die sich um Motive wie »ewiges Leben« sorgte. Je mehr die Medialisierung der Welt voranschreitet, desto mehr Menschen begreifen, daß sie Spuren hinterlassen müssen, wenn sie gelebt haben wollen – vorausgesetzt, ihnen ist die Hinterlassung von Spuren nicht gleichgültig. Wir leben in einem subtil grausamen Regime, in dem die einen sich in ihre hinterlassenen Spuren retten möchten, während die anderen in der vermeintlichen Hölle der Spurlosigkeit verschwinden.
    Spaemann projiziert diese zeitgenössische Empfindung in die alteuropäische Erlebnisweise zurück: Früher stellte eine Instanz namens Gott als absoluter Archivar ein in Himmel, Hölle und Zwischenhölle gegliedertes Aufbewahrungs-Jenseits zur Verfügung, für das sich die Menschen durch ihr irdisches Verhalten qualifizierten. Der Gott Spaemanns, Gott hab ihn selig, fungierte als der absolute Zuschauer, der, indem er allem zusah, zugleich die Fähigkeit besaß, sich alles zu merken – und über alles zu richten.
    Wir haben die Figur des zentralen Zeugen, der zugleich Konservator und Selektor war, in eine Wolke aus lokalen Beobachtern zerstäubt. Wir beschreiben Papier, wir fotografieren, wir stellen ins Netz. Wo vormals Himmel und Hölle zwei Zonen aus bleibenden Daseinsergebnissen bildeten, mit dem Purgatorium als drittem Ort dazwischen, haben wir einen einzigen ontologisch homogenen Aufbewahrungsort geschaffen, das Archiv, in dem bis auf weiteres überdauert, was irgendwie überdauern kann.
    Die Gläubigen der Buchreligionszeit haben am Ende des 20. Jahrhunderts neu ausgerüsteten Nachwuchs bekommen. Unzählige spüren, wie wenig es genügt, in der Gegenwart herumzuhängen, um »wirklich«, das heißt auf dokumentierte Weise, da zu sein. Sie möchten sich einen Platz auf den Bildschirmen, in der Mediasphäre, im Archiv erobern. Um jetzt zu existieren, müssen siesich darum sorgen, daß sie da gewesen sein werden – manche stellen schon ihre täglichen Blutdruckwerte ins Netz. Andere masturbieren vor der Webcam-Linse, um sicherzugehen, daß sie morgen die sind, die am Tag davor abgespritzt haben werden. Was man für Exhibitionismus hält, ist ontologische Panik. Wir sind so schwache Kandidaten fürs wirkliche Dasein, daß uns jedes Mittel recht ist, unsere Existenz zu beweisen. Aber darf man von unserem Bedürfnis nach Beobachtetwerden auf die Existenz des Zeugen schließen?
    Spaemanns Problem ist seit einer Weile jedermanns Problem. Nur: Spaemanns Lösung hängt um eine Epoche zurück, wenn nicht um ein ganzes Weltalter. Die Zäsur, die die Welten trennt, ist aber erst in allerjüngster Zeit erfolgt, weswegen es nicht ganz unmöglich scheint, über den Graben hinweg noch ein paar Worte miteinander zu wechseln – so wie Enkel mit Großeltern zu reden pflegen. Man kann ja begreifen, daß ein Mensch nicht spurlos verschwinden will. Aber komisch ist es schon, daß du, um hier und jetzt real zu existieren, einen Gott-Archivar im Rücken haben mußt, um von ihm ein Attest über

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