Zeilen und Tage
dein Jetzt-wirklich-hier-gewesen-Sein zu erhalten.
Sind nicht auch Großväter manchmal große Kinder? An welche infantilen Bilder vom Drüben klammern sie sich, wenn sie sich Gott als Hüter der Erinnerung an sie selbst vorstellen? Mir scheint, wie alle Metaphysiker alten Schlages verharmlost Spaemann den Tod. Er will nicht wissen, daß der Tod Vernichtungscharakter hat und kein bloßer Kostümwechsel ist. Ach, diese allzu frommen Gottesverteidiger! Es wäre besser, sie würden sich mehr um Philologie und Freundlichkeit bemühen, als sich in eigener Sache die Rettung einzubilden.
Es ist ja vor allem ein Mangel an Philologie, zudem ein Symptom jener intellektuellen Unfreundlichkeit, die schon mehr als die Hälfte des Mißverständnisses ist, wenn Spaemann vorgibt, er habe ein »nietzsche-resistentes« Argument zugunsten Gottes Wirklichkeit gefunden. Schon der Ausdruck klingt beklemmend unfrei. Nietzsche auf die Position eines »Gottesleugners« festzulegen – ist das nicht eine beschämende Unterbietung des Niveaus, auf dem der Gegner sich bewegt? Spaemann redet, als habe das Herauswachsen eines großen Geists aus dem Dunstkreis von Kirche, Kult und Dogma etwas mit »Leugnung« zu tun.
Von demselben Autor gibt es sehr viel Respektableres zu lesen, seine Bücher über Glück und Wohlwollen oder über die natürlichen Ziele haben das Zeug, Klassiker zu werden. Warum dieser Absturz? Sobald er in die Haltung des Apologeten einrastet, unterlaufen ihm primitive Klischees und menschliche Taktlosigkeiten in Serie, wie von der Angst paralysiert. Sein ökumenisches Sensorium ist nicht sehr gut entwickelt, und obwohl er die Rolle des vorgeschobenen katholischen Postens auf gegnerischem Terrain seit Jahrzehnten nicht ungeschickt ausübt, läuft seine Tätigkeit im polemischen Ernstfall auf sture Revierverteidigung hinaus, ob gegen Juden, Protestanten, Liberale oder »Heiden«. Er folgt einem Reflex, der offenbar vom Tierreich bis in die Sphäre der Lehrstühle reicht, ja, hinauf zum Heiligen Stuhl, der das Revier der Reviere für sich in Anspruch nimmt.
19. November, Karlsruhe
»Vordringlich die jungen Leute im Land halten«, sagt Frau Lieberknecht in Thüringen. Sie sollte sich den Satz schützen lassen.
20. November, Karlsruhe
»Man tritt in einen Toten ein wie in eine Mühle«: Sartre in bezug auf Flaubert.
Zur Vorbereitung des nächsten Philosophischen Quartetts abends Alan Poseners Streitschrift Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft begonnen. Das Buch sinkt mir aus der Hand, trotz seiner Angriffslust, die wach machensollte. Kein Zweifel, ich habe mich der schweigenden Mehrheit der Vergrippten angeschlossen.
Warum Luther zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Gnade so stark macht? Weil er durch Kirchenmauern hindurch den neuen Zeitgeist wittert, der unter dem Namen der Fortuna eine prickelnde Theologie des Erfolgs und Mißerfolgs popularisiert. Fortuna ist die erste unter den Göttinnen der Antike, die aus dem Exil zurückkehren. Venus folgt wenig später, Dionysos zeigt sich am Horizont, auf dem von Tigern gezogenen Wagen. Luther reagiert darauf mit einer Flucht ins Mittelalter.
Indem er die Gnadentheologie übertreibt, versucht Luther das neue Interesse von Christenmenschen an den Wendungen von Glück und Unglück unter die Kontrolle des Einen zurückzubringen. Vergeblich, denn Fortunatus und Co. sind schon auf den Straßen Europas unterwegs, Jakob Fugger kontrolliert die Tiroler Silberminen, Doktor Faustus fliegt durch die Lüfte und beschläft die Haremsdamen von Istanbul. Die List des vernünftigen Glaubens sorgte jedoch dafür, daß die Lutheraner ihrem Doktor nicht ins Mittelalter folgten. Sie benutzten seine begnadete Sturheit, um das Heil an Orten zu finden, wo weder Mönche noch Pastoren dabei sind. Die Emanzipation des Zufälligen ließ sich verzögern, doch nicht mehr aufhalten.
Heftiger noch fällt die Anti-Fortuna-Reaktion bei Calvin aus, indem er den Gnadengedanken zu einer öden Prädestinationsmetaphysik übersteigert. Glück und Unglück werden in seinen Doktrinen vollends um ihre kontingente Qualität gebracht. Was Spiel des Zufalls war, gerät bei ihm zum Zeichen in einer bis ins Detail reichenden Diktatur Gottes. Viel drastischer als Luther führt Calvin vor, was es kostet, die Autokratie des Himmels wiederherzustellen, nachdem sich die Zufallsgenien von den Fesseln der Prädestination losgerissen haben.
Als ahnte er voraus, man würde im Zweiten Deutschen
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