Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
vielleicht auch hier und dort Verdrängtes – obschon der Gebrauch dieses Konzepts bei meinem modus vivendi seit den erwachsenen Jahren mir kaum noch sinnvoll anwendbar schien. In der Zwischenzeit ist ein zweites, unpersönliches Unbewußtes aufgetaucht, das nicht zu meinem biographischen Selbst, sondern zu meiner publizistischen Imago bzw. meinem gleichnamigen Doppelgänger im Netz gehört. Merkwürdig, wie auch Medienpuppen ein dunkles Innen»leben« entwickeln.
    Nach allem, was man hört, ist meine Imago in ihrer dunklen Hälfte ein anmaßendes Unding, ein Hybrid aus Dieter Bohlen, Muammar al-Gaddafi und Carl Schmitt. Hätte ich die Wahl, würde ich es vorziehen, ihm nicht zu begegnen. Mein zweites Unbewußtes hat offenbar den Auftrag erhalten, eine Quelle desÜbels in der Welt zu verkörpern. Ja, eine Gruppe von sensitiven Personen, darunter Philosophieprofessoren und Journalisten, benutzt dieses Phantom als Voodoo-Puppe, um es mit Nadeln, Flüchen und Unterstellungen zu spicken. Mein Avatar ist das Lieblingshaßobjekt einiger Leute, die sich für klug, sozial und gutartig halten. Sie scheinen es zu genießen, daß das Böse eine Karlsruher Adresse hat. Da ist wieder einer, der die Schwefeldämpfe des Elitismus atmet. Er besucht Oswald Spengler in der Hölle und feiert kaltherzige Champagnerfeste mit den Bösmenschen. Wie man sieht, ist der Haß ohne den Willen zur Trivialisierung nicht zu denken. Hinter all den Projektionen hört man eine hilflose Stimme, die bittet, sei doch so schlecht, daß ich dich ablehnen kann.
28. November, Karlsruhe
    Andrei ruft aus Bukarest an: der Ceaus¸escu-Film sei in der Hauptsache fertig. Er berichtet von einer Einladung nach Mexiko, wo er anläßlich des 100. Jubiläums der Revolution »Videogramme« zeigen soll.
    De Maistre, 1819: »Die Türken sind noch heute, was sie im fünfzehnten Jahrhundert waren, in Europa kampierende Tataren.« Weil sich die kampierenden Herren nicht mit den seßhaften Einheimischen einlassen, ist in Griechenland unter dem türkischen Joch keinerlei Berührung zwischen Herr und Knecht möglich, und ohne Berührung keine Dialektik. »Der Engel der Souveränität ist an dieser Nation ohne Gabe vorbeigegangen (wie auch an den Ägyptern …).«
    Pius VII. war der einzige Papst, der in den Hungerstreit trat – er tat dies, um gegen die entwürdigende Behandlung durch Napoleon Bonaparte zu protestieren. Nachdem er Napoleon exkommuniziert hatte, wurde er von diesem für drei Jahre in Savona(Ligurien) festgesetzt und später, 1812, nach Fontainebleau verschleppt. Durch die französische Annexion des Kirchenstaats 1809 war der Katholizismus als völkerrechtliche Größe zeitweilig erloschen. 1814 wurde Pius von Napoleon unter dem Druck der Alliierten nach Rom zurückgeschickt, 1815 kam es zur Restauration des Kirchenstaats. Bei all diesen Wechselfällen blieb die Gefaßtheit des Papsts bemerkenswert, seine Popularität nahm ständig zu. Mit der 1815 erfolgten Wiedereinsetzung des Jesuitenordens führte er die katholische Sache vorübergehend in die Offensive – er versprach sich von dieser Maßnahme, die das geistliche Gegenstück zu den Beschlüssen des Wiener Kongresses bildete, nicht weniger als die endgültige Vernichtung der Aufklärung.
29. November, Wolfsburg
    »Ah, comme le vie est lente et comme l’espérance est violente.« Apollinaire, Le Pont Mirabeau
    Lese irgendwo: Die Wörter »travail« und »travel« kommen aus der gleichen Wurzel, »tripalium«, dem dreispitzigen Folterinstrument des Mittelalters. Immer wieder findet man Masochisten, die vorgeben, gern zu arbeiten und gern zu reisen.
2. Dezember, Wien
    Das Weltall fürchtet die Zeit. Die Zeit fürchtet die Pyramiden. (Ägyptisches Sprichwort?)
    Das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung über die Minarette scheint den Mythos der helvetischen Zivilität zu beschädigen. Das Ganze ist aber nicht mehr als ein Stück politischer Gruppendynamik, in dem ausschließlich über Phantasmen gestritten wurde. Das geht aus der Information hervor, wonach von den 150 Moscheen bzw. islamischen Versammlungsorten in der Schweiz nur vier tatsächlich minarettartige Türme besitzen. Man kann den Vorgang getrost unter der Rubrik politische Hysterie ablegen. Seit längerer Zeit ist das Selbstbewußtsein des Landes angeschlagen, das zeigt sich an zunehmender Aufhetzbarkeit. Diesem Befund ist auch durch die erstaunliche Bemerkung von Claude Lévi-Strauss nicht abzuhelfen: »Une certaine dose de xénophobie n’est

Weitere Kostenlose Bücher