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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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pas inutile à la perennité d’une société et ne doit pas être confondu avec le racisme.« Nützliche Fremdenfeindlichkeit: Den Begriff sollten sich die Korrekten in die Andachtsecke hängen.
    Die Epidemie des Verbalradikalismus bringt es mit sich, daß Verrückte aller Art zur Stunde auf derselben Station eingeliefert werden. Toni Negri doziert in der Frankfurter Rundschau , die demokratische Mitte stelle jetzt den »Faschismus« dar, während der türkische Ministerpräsident Erdogan mit der These glänzt, die Schweiz habe in der Minarettfrage »faschistisch« reagiert.
    Von Jean-Pierre Dupuy: Pour un catastrophisme éclairé .
    Daß wir imstande gewesen wären, das Schlimmste zu verhindern, werden wir erst wissen, wenn es für verhinderndes Handeln zu spät ist.
    Wie man einst auf die Wiederkehr Christi gewartet hat oder auf die Weltrevolution, wartet man heute paradox auf das Nicht-Eintreten des Ereignisses, das wir im numinosen Singular »die Katastrophe« nennen. Sie ist der Gott, der sich niemals offenbaren soll. Wer nicht an ihn glaubt, macht seine Epiphanie wahrscheinlicher.
    Historische Zeit ist strukturell semi-fatal: halb Verhängnis aus Naturprozeß und höherer Gewalt, halb menschliches Unternehmen aus Plan und Entschluß. Es käme darauf an, die Semi-Fatalität des Kommenden genug zu durchschauen, um zu wissen, was man zu tun hat, um das Entgleiten der Ereignisse in eine durch und durch fatale Sequenz zu verhindern. Alle Vernunft resümiert sich in der Empfehlung, im Semi-Fatalen zu bleiben. Der Flirt mit der Katastrophe ist nicht mehr geistreich. Daß das Chaos willkommen sei, weil die Ordnung versagt hat: Das war im Jahr 1909 vielleicht eine ernstzunehmende Pointe. Sie würde heute nicht einmal für das Kabarett aus der Anstalt taugen.
    Über den Unterschied zwischen einer Mondfinsternis und einer Zivilisationskatastrophe: Die erste wird durch ihre Vorhersage nicht verhindert, die zweite tritt gar nicht ein, wenn ihre Vorhersage hinreichende Verhaltensänderungen bewirkt.
    Ereignisdenken für den Portier: Es geht so lange gut, bis es schiefgeht.
    Die Tötungsstatistik für Al Quaida in den Jahren 2004-2008 gibt Aufschlüsse über ihre Prioritäten: Sie hat in dieser Zeit 3020 Menschen getötet, davon 2650 Muslime und 370 »Ungläubige«.
4. Dezember, Karlsruhe
    »L’Etat, c’est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s’efforce de vivre aux dépens de tout le monde.« Frédéric Bastiat, 1848. Daß alle auf Kosten aller leben möchten: das beschreibt das moderne System der vom Staat betreuten Bedürfnisse mit einiger Treffsicherheit, ausgenommen die Lage der breiten Mitte, auf deren Kosten tout le monde tatsächlich lebt.
    Eine Einladung zum Subversive Film Festival in Zagreb Anfang Mai 2010. Was könnte ich dort zu sagen haben, außer daß die Vorstellung von Subversion obsolet geworden ist? Noch immer suchen die Unentwegten nach veränderungsmächtigen Energien im Untergrund. Noch immer vermutet man im großen Unten Leichen und Wunder. In Wahrheit ist die Gegend leer und besenrein an die Historiker übergeben worden. Man kann die Verhältnisse nicht mehr unterwandern, nur überwandern.
    Letzte Bilder: Das Schwarze Quadrat und die nackte Frau.
    Der letzte Satz: Gemurmel, postsyntaktisch, ohne Zähne.
    Letzte Kunst: Biennale der Neo-Fatigués.
5. Dezember, Karlsruhe
    In Fontenelles Dialogen über die Mehrheit der Welten erfährt man, auf dem Merkur sei das Narrenspital des Weltalls eingerichtet. (190f.)
    Ein französischer Polemiker mokiert sich über Rousseau: »Alle Schafe werden als Fleischfresser geboren und fressen doch überall Gras.«
    Nonsense upon stilts: So nannte Bentham Jeffersons Aussage, wonach die Menschenrechte »selbstevident« seien. Er unterschied feinsinnig zwischen »einfachem Nonsens«, etwa der Idee der Naturrechte, und »rhetorischem Nonsense«, Unfug auf Stelzen, etwa wenn die Naturrechte als angeborene Ideen, die jeder Ableitung oder Vorschrift zuvorkommen, präsentiert werden.
8. Dezember, Karlsruhe
    Großer Stil ist deflationistisch. Von Tacitus bis Nietzsche: der kurze Satz, der die Form der Endgültigkeit annimmt.
    Rivarol zugeschrieben: Gleichheit ist etwas Wundervolles, doch warum es dem Volk sagen?
9. Dezember, Karlsruhe
    Von Friedrich Wilhelm Graf ein Sammelband über Religionsstifter der Moderne, in dem sich ein Artikel von ihm über Le Corbusier findet.
    Ab 1929 soll Le Corbusier von sich selbst nur noch in der dritten Person gesprochen

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