Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Geistes von Bedeutung. Hegel bloß als Lieferanten von Motiven zum besseren Verständnis »intersubjektiver« Beziehungen zu behandeln, wie in der späteren Frankfurter Schule üblich, läuft auf die Kastration des Denkers zum Sachbearbeiter im Amt für Arbeit und Soziales hinaus.
    Wie wäre es, wenn wir aufhörten, an »die Kommunikation« zu glauben? Man müßte das Aussenden und Empfangen von Zeichen vom Angeln oder der Jagd her auffassen. »Senden« hieße dann »Köder auslegen«, und »Verstehen« wäre das Äquivalent von »anbeißen«. Jede höhere Form von »Verständigung« impliziert ein gutes Maß an »in die Falle Gehen«.
    John Locke doziert: Gott hat den Begriff des Eigentums (property) an die Möglichkeit des (eigenen) Gebrauchs gebunden. Wer mehr besitzt, als er gebrauchen kann, überschreitet die gottgegebene Grenzlinie. So sind Privateigentum und menschliche Endlichkeit zunächst als reziproke Korrektive aufeinander bezogen. Der private Gebrauch zieht der Bereicherung eine Grenze. Mit dem Eindringen des Geldes ins Leben der Eigentümer wird die ursprüngliche Proportionalität gesprengt. Gleichwohl bringt Geld für Locke überwiegend Segen. Marx hingegen kehrt schon den Fluch hervor, sofern der Geldgebrauch Verkehrungen ohne Ende initiiert. Bei Locke meint Besitz Maß, Verantwortung und stewartship, für Marx zählt nur das verrückt gewordene Geld, das zu Maßlosigkeit, Entpflichtung und Verheerung tendiert.
    Die Stärke Gunnar Heinsohns ist seine Entschiedenheit, das Phänomen Wirtschaft von allem anderen abzugrenzen, was nicht Wirtschaft ist: Ökonomie ist keine Psychologie, keine Theorie der Leidenschaften, keine Risikotheorie, keine Arbeitsphilosophie, keine Politologie, keine Lehre von der Macht, keine Konflikttheorie, keine Ethik, keine Kriminalistik und keine Lehre von der besseren Zukunft. Sie ist ausschließlich die Theorie der monetären Handlungen, die durch Verpfändung von Eigentum in Gang gesetzt und durch den Zinsstress dynamisiert werden. Die property economics liefern die dichteste Form der ökonomischen Theorie, die bisher formuliert wurde. Sie ist luzid, weil sie durchweg auf sachdienlichen Hinweisen beruht. Das unterscheidet sie fundamental von allen neo-klassischen und neo-marxistischen Erklärungen des Wirtschaftsgeschehens, die stets nach der Anthropologie, der Ethik, der Psychologie und der Politik schielen und darum immer zu früh in andere Gattungen überwechseln. Am deutlichsten ist dieses Ausweichen momentan bei den Neo-Keynesianern zu sehen, die, sobald sie etwas nicht erklären können, zu den animal spirits Zuflucht nehmen. Kein Wunder, daß man auch von der Seite dieser Neo-Irrationalisten nichts Sinnvolles zur Durchleuchtung der aktuellen Krise hört.
16. November, Karlsruhe
    Wann hat man es zuletzt erlebt, daß die Nation sich in eine Therapiegruppe verwandelte, in der man über Depressionen redet? Nachdem sich ein Fußballer, der nach eigener Aussage den Stress nicht mehr ertrug, das Leben genommen hat, schlägt die Kurve täglicher Heuchelei steil nach oben aus. Gegen den unmenschlichen Stress plädieren sie jetzt alle, und alle genießen es, daß sie ihn besser ertragen als der arme Teufel, der damit nicht zurechtkam.
17. November, Karlsruhe
    Im April 1933 sandte Sigmund Freud an Mussolini ein Exemplar des gemeinsam mit Albert Einstein verfaßten Büchleins Warum Krieg? mit der Widmung: »Benito Mussolini mit dem ergebenen Gruß eines alten Mannes, der im Machthaber den Kulturheros erkennt«. Das Zitat war durch die Biographie von Ernest Jones Anfang der sechziger Jahre bekannt geworden, der allerdings statt »Machthaber« den Ausdruck »Diktator« eingesetzt hatte. Das Original wurde vor nicht so langer Zeit wiedergefunden,und das Jonessche Zitat konnte aufgrund von Freuds Autograph berichtigt werden – soweit es den Wortlaut betrifft. Die schnelle Beförderung des Machthabers zum Heros, die vorgab, eine »Erkenntnis« des alten Seelenkenners zu sein, ließ sich nicht korrigieren. Sie verrät, wie wenig taktsicher der alte Herr noch war, sobald er der Machtsphäre auch nur von weitem näher kam.
    Zwei Aufheiterungen: Das Gespräch mit Res Strehle und Pietro Supino zur Vorbereitung des Zürcher Anlasses im Januar 2010. Die Zusendung des ersten Exemplars von Philosophische Temperamente , soeben bei Diederichs erschienen.
    Sein und Zeit neu durchdenken: Unter dem Aspekt der Eile. Man hat nie so viel Zeit, wie man bräuchte, um alles richtig zu machen.
    Wieder

Weitere Kostenlose Bücher