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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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haben.
    Eine »gute Religion«, so Graf, hält die Ambivalenzen des Religiösen präsent und fördert die Besinnung – worauf? Ich würde sagen: auf den Preis des Strebens nach Letztimmunität.
    Das Phänomen »Duldungsstarre« stammt aus der Veterinärgynäkologie. Es bezeichnet den Zustand, in dem sich viele weibliche Tiere während der Kopulation befinden. Er wird im Tierreich durch die Ausschüttung eines körpereigenen Lähmungshormons herbeigeführt, das unvermeidliches Unwillkommenes irgendwie erträglich macht. Sieht man sich den beschriebenen Zustand genauer an, so findet man sein Muster beim Menschen in zahlreichen sozialen Situationen wieder, etwa bei öffentlichen Ritualen, bei Gremiensitzungen, die irgendwie überstanden werden müssen, bei langen schlechten Vorträgen, bei Bundestagsdebatten und bei Vorwürfen des Ehepartners, die man zu oft gehört hat.
10. Dezember, Karlsruhe
    Beim Versuch, den Suhrkamp Verlag unter der alten Frankfurter Telefonnummer zu erreichen, sagt heute eine Stimme: »Kein Anschluß unter dieser Nummer.« Der automatische Ansagedienst gibt Nachricht vom Ende einer Epoche.
    Die ersten Sätze, die durch Telefone übertragen wurden, lassen ahnen, wozu das neue Medium dienen wird. Es beginnt 1860 mit einem Nonsense-Satz, der bei dem frühesten erfolgreichen Übertragungsversuch von Philipp Reis gesprochen worden sein soll: »Das Pferd frißt keinen Gurkensalat«, und setzt sich fort in Alexander Graham Bells Kommando vom 10. März 1876: »Mr. Watson, come here, I want you.« Am Anfang war das Nichts-zu-sagen-Haben.
    Harvey stellt in seinem Essay über Vaterlosigkeit bei Sartre die These auf, dessen unvollendete Skizzen zur Ethik hätten zuletzt eine Untersuchung über die Möglichkeit einer moralisch fruchtbaren Vater-Sohn-Beziehung ergeben.
    Gewiß ist etwas ganz anderes: Sartres Aversion gegen die Familie war in ihrem Kern die Unlust an der Idee, eine von den zahllosen Aeneas-Kopien zu werden, die das alte Europa bevölkerten, jede einzelne mit ihrem lebenslang auf ihren Schultern hockenden Vater belastet. Besser Christus einmal über den Fluß tragen als den Vater durchs ganze Leben.
11. Dezember, Humlebaek bei Kopenhagen
    Beim Öffnen der Vorhänge im Hotelzimmer schaue ich auf kahle Bäume. Auf den Zweigen sitzen dicke Vögel, vielleicht Tauben, in Schlafhaltung, als ob sie dem Morgen nicht so richtig trauten. Eine Stunde später scheint die Sonne in die Bäume, mit der Nachricht, daß es sich gelohnt hat, die Nacht zu überstehen. Der Fisch an der Luft bemerkt mit der Zeit, Ersticken ist nicht die Lösung seines Problems, er muß anfangen zu atmen.
    Erinnerung an die Mailänder Carmen -Inszenierung von Emma Dante. Noch immer habe ich die Schlußtakte mit dem jubilatorisch-verzweifelten »ma Carmen adorée« des Liebesmörders Don José im Ohr, das der männlichen Hysterie einen herrlichenAuslauf eröffnet. Dazu innere Bilder vom Schlußapplaus, wie Jonas Kaufmann, der in seiner Rolle triumphiert hatte, mit einer Geste demütiger Polygamie die Rosen vom Bühnenboden aufhebt, die von den Logen auf ihn herabregneten.
    Der Vortrag im Louisiana-Museum How big is big? geriet zu einer Performance mit durchbruchartig guter Resonanz. Die Sponsoren strahlten, der Museumsdirektor Poul Erik Tojner war von Stund an der glücklichste Mann in Dänemark. Nachdem ich sein Büro mit dem Blick auf den Öresund gesehen hatte, glaube ich, er ist es auch im Rest des Jahres.
13. Dezember, Berlin
    Beruf: Komponist für Veterinärmusik.
    Von Anfang an war die Pop-Art auf schnelle Entropie angelegt. Auf den ersten Blick witzig, auf den zweiten platt, bei jeder weiteren Wiederholung eine Beleidigung. Andy Warhol, der Hauptagent des Typus, blieb in der fallenden Bewegung gefangen, anfangs ein stoischer Avantgardist der Konsumkultur mit seiner Botschaft: you are what you buy, zuletzt ein mysteriöser Verkäufer von Banalitäten. Es mußte schon ein Berufs-Überinterpretierer wie Arthur Danto kommen, um in dieser Drift zur Belanglosigkeit eine tiefere Weisheit zu vermuten. Tatsächlich kann nur ein Philosoph in der Tautologie mehr sehen als die reine Platitüde. Es gehört zu seinem Metier, nach dem Ursprung der Evidenz zu fahnden – wobei man leicht bei dem Satz landet: »es ist, was es ist«.
    John Cage in seiner Rede An ein Orchester : »Spielen Sie alles mit etwas Extremismus, als würden Sie im Wald sein und Dinge hören, die Sie noch nie gehört haben.« Auf dem Umweg über die amerikanische

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