Zeilen und Tage
objektivieren. Zum Fußball als reguliertem Schicksalsdrama auf dem Rasen gehören drei Mannschaften. Nimmt man der Mannschaft im schwarzen Trikot die Freiheit, falsch zu pfeifen, hat man das Spiel ruiniert.
Das Referendum-Nein (in Irland und anderswo) ist die staatliche zugesicherte Form der Revolte. Um 1900 hätte man das vielleicht den weiblichen Widerstand genannt. Der geht darauf aus, dem Herrn einen Streich zu spielen, wenn er am großzügigsten war. Man überrascht ihn mit Negativität, wo er es am wenigsten erwartet. Für einmal hat die Psychoanalyse recht: Hysteriker sind auf der Suche nach einem Herrn, um ihn tyrannisieren zu können.
Schicke an Sepp Gumbrecht ein paar Zeilen zu seinem 60. Geburtstag. Er antwortet, ein größeres Fest werde es nicht geben, der 15. Juni fällt dieses Jahr mit der Semesterschlußfeier von Stanford zusammen, so daß sein Tag in dem größeren Event aufgeht. Witzigerweise heißt die Zeremonie Commencement Day. Man zelebriert das Semesterende als Anfang, damit jeder Freshman sieht, was Dialektik ist.
Wie es kommt, daß das Ohr manchmal ganz gern von Wagner zu Rossini, Donizetti oder Bellini zurückfällt, wenn es um den Gesang geht? Bei den Italienern sind die Dinge von Anfang anunmißverständlich geregelt. Gesang will in erster Linie artistische Bezauberung sein, es geht ums Gefallen und nicht nur um die große Kunst. Der Sänger braucht Höhe, nicht Bedeutsamkeit, und wenn er das hohe Oh singt, sind alle Genien auf seiner Seite. Das gilt besonders, seit Gilbert Duprez bei einer Aufführung von Rossinis Guillaume Tell 1837 erstmals ein hohes C mit der Bruststimme gewagt hatte – das war die Urszene der neueren Tenorkultur. Mit ihr wurde für Männer der Zugang zum Reich der Hysterie gebahnt – für die weibliche Seite war eine neue Erscheinung des Phallus etabliert. Man weiß es auf den Tag genau, es war ein 1. April. Seither ist der Mythos vom unmöglichen hohen Ton in der Welt. Ein Jahr zuvor hatte Adolphe Adam seinen Postillon de Longjumeau herausgebracht, in dem in der Arie »Mes amis, écoutez l’histoire« ein hohes D verlangt wird – das fiel noch in die Zeit, als die Kopfstimme bzw. die voix mixte den italienischen wie den französischen Tenören selbstverständlich war, weswegen man sich über obere Grenzen kaum Gedanken machte. Der legendäre Rubini erreichte im verstärkten Falsett Höhenlagen bis zum Kontra-Altbereich. 1840 zieht Donizetti die Konsequenzen aus der neuen Lage und setzt dem Tenor in der Rolle des Tonio in der Regimentstochter eine Arie mit neun »echten« hohen C vor. Seither ist es manchmal die oberflächlichste Musik, die wegen ihrer Anforderungen an die Bravour der Sänger fast unspielbar ist.
Für später: »Theorie des hohen Tons«. Ausgehend von W.H. Audens Wort, daß »jedes genau getroffene hohe C die Theorie widerlegt, daß wir die willenlosen Puppen des Schicksals oder des Zufalls sind«. Zitiert in Jürgen Kestings vorbildlich sensiblem und doch repektvoll kritischem Nachruf auf Pavarotti, der genau vor einem Jahr verstarb. Wenn selbst solche Tenöre dahingehen, dachte ich seither hin und wieder, steht die Sache der Unsterblichkeit auf noch zerbrechlicheren Füßen als zuvor.
Einer der ersten Hinweise auf die Existenz eines gewissen Shakespeare besteht in einer polemischen Notiz eines Dichters namens Robert Greene, der den Neuling als eine upstart crow denunziert – eine emporgekommene Krähe. Die Krähenwarnung war nicht umsonst, der Sturm kam auf Krähenfüßen.
In Loves Labour Lost heißt es: »Fasten, studieren, keine Frauen sehen, klarer Verrat am Königtum der Jugend.«
In Wie es euch gefällt : »die jugendliche Hose … eine Welt zu weit für die geschrumpften Lenden.«
15. Juni, Karlsruhe
Ärger mit Lauda Air, nicht zum ersten Mal. Größere Verspätung. Vom Spiel Türkei gegen Tschechien nur die letzten Minuten.
Wie ein aufklärerischer Mythos nach dem anderen kollabiert: Psychologen von der Universität Buffalo finden heraus, daß nach Traumatisierungen das Schweigen oft die bessere Therapie ist. Zum Beispiel verarbeiteten die Schweiger den 11. September schneller und waren danach weniger krank als die Trauma-Opfer, denen man Gesprächstherapien angeboten hatte. Natürlich tun jetzt die Helferorganisationen alles, um die Verbreitung der Einsicht zu verhindern. Kann sein, daß die Orientalen, bei denen das peinliche Nachfragen und das Sprechen über intime Dinge verpönt ist, immer schon auf dem richtigen Weg
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